Die Zugunglücksstelle bei Riedlingen (Baden-Württemberg) bot am Sonntagabend ein grausiges Bild: Ein Regionalzug mit vier Waggons war entgleist, die Triebwagen teilweise gekippt und ineinander verkeilt. Drei Menschen starben und 37 Passagiere wurden, teils schwer, verletzt. Unter den Todesopfern waren der 32-jährige Lokführer, ein weiterer Bahnmitarbeiter (36), der als Auszubildender mitfuhr, und eine 70-jährige Frau.
An der Unglücksstelle verläuft die Fahrbahn tief im Gelände eingeschnitten, rechts und links steigen Böschungen steil an. Am Sonntagabend ging ein Gewitter mit Starkregen nieder. An der Straße oberhalb der Böschung lief ein Abwasserschacht über, und das Wasser stürzte die Böschung hinunter. Ein Hangrutsch entstand, der das Gleis verschüttete. Als der Regionalexpress RE 55 von Sigmaringen nach Ulm mit großer Geschwindigkeit heranfuhr, entgleisten die Triebwagen, schlitterten über das Gleisbett und prallten frontal und seitlich auf die Böschung. Über 50 Passagiere waren an Bord (anfangs war sogar die Rede von 100 Passagieren).
„Es hat einen Schlag getan, und der ganze Zug hüpfte, wie man sich das in einem Cartoon vorstellt“, berichtete ein schockierter junger Passagier, der den Unfall miterlebt hatte, dem Südwestrundfunk (SWR). Darauf sei der Zug fast langsam zur Seite gekippt. Als die Waggons sich ineinanderschoben, sei er eingeklemmt worden, wie auch die zwei Passagiere neben ihm. „Ich konnte nicht mehr richtig atmen, die ganze Zeit lief Diesel über meinen Körper, mein Gesicht, in meinen Mund, meine Augen (…).“
Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienste und Technisches Hilfswerk (THW) wurden alarmiert, und rasch waren mehrere Hundert Helfer zur Stelle, darunter auch Anwohner der Gegend. „Das Bild, das sich bot, war Chaos pur“, so ein THW–Mitarbeiter. „Das war erstmal gar nicht richtig fassbar.“
Am Montagmittag hatte dann die Prominenz ihren Auftritt, und der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) führte Bahn-Chef Richard Lutz und den Bundesverkehrsminister an den Unfallort. Dort war ein schwerer Spezialkran auf Schienen schon dabei, die Waggons von den Gleisen zu heben.
Die Politiker vergossen ihre üblichen Krokodilstränen. Kretschmann zeigte sich „erschüttert und tief betroffen“. Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder (CDU) sprach von der „Kraft der Verheerung, die hier gewütet hat“. Einem SWR-Reporter erklärte der Landesverkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) entschuldigend, es sei „schon schwierig, alles in den Griff zu bekommen. (…) Wir müssen endlich das Klima wirksam schützen, nicht nur die Folgen des Klimawandels.“
Aber keiner erklärte, wie es sein kann, dass die Gleise gegen solche Naturkatastrophen nicht besser gesichert sind.
Seit einem Vierteljahrhundert haben die Extremregenfälle stark zugenommen, und laut Experten besteht für 9 Prozent des deutschen Bahnnetzes eine Gefahr durch Erdrutsche, Schienenverschüttung und Unterspülung. Das Deutsche Zentrum für Schienenverkehrsforschung (DZSF) beim Eisenbahn-Bundesamt hat längst eine Gefahrenkarte erstellt, die gefährdete Strecken aufweist. Die Tatsache, dass auf der Karte das Unfallgebiet bei Riedlingen als „problematisch“ vermerkt ist, hatte jedoch keinerlei Konsequenzen.
Beispielsweise gibt es seit Jahren die technische Möglichkeit, Glasfaserkabel entlang der Gleise zu verlegen, um ihren Zustand zu überwachen und potentielle Schäden wie zum Beispiel Hangrutsche rechtzeitig zu erkennen. Über das so genannte Fiber Optic Sensing (FOS) könnten Lokführer und Leitstellen rechtzeitig gewarnt werden. Im Alpenraum, in der Schweiz und auch in Österreich, wird FOS bereits seit einigen Jahren benutzt. Auch in Deutschland wurde es schon erprobt.
Die Technik ist einfach zu verlegen und nicht sehr teuer. Warum wurde sie hier und an allen vergleichbar gefährlichen Stellen nicht verlegt?
Die Antwort lautet: Bei der Deutschen Bahn steht nicht das Leben und Wohlergehen von Beschäftigten und Passagieren an erster Stelle. Die Führungskräfte, die über das Schicksal der Bahn entscheiden, haben den Profit an die erste Stelle gesetzt.
Gerade Richard Lutz, der Bahn-CEO, der an der Unfallstelle Tränen vergoss und behauptete: „Ich trauere mit den Angehörigen um die Toten“, ist ein gutes Beispiel: Lutz kassiert ein Jahresgehalt von über 2,1 Millionen Euro dafür, dass er die Bahn in eine Profitquelle verwandelt.
Seit Jahren wird bei der Deutschen Bahn systematisch Personal abgebaut, werden profitable Filetstücke privatisiert und Abteilungen, die Verluste einfahren, kaputtgespart. Während die Managergehälter steigen, fallen die Löhne und Gehälter des Personals immer weiter zurück.
Die Gewerkschaften, sowohl die EVG als auch die GDL, machen diese Politik mit. Die EVG hat Anfang 2025 Reallohnsenkungen für die Bahnbeschäftigten und einem Streikverbot für 33 Monate zugestimmt. Davor hatte die GDL bereits Stellenstreichungen zugestimmt, „wenn sie in der Verwaltung stattfinden und nicht im direkten Bereich“, und so zur Spaltung der Belegschaften beigetragen.
Die Entgleisung von Riedlingen ist kein Einzelfall. Seit Jahren kommt es immer wieder zu Bahnunfällen, und viele gehen tödlich aus. Erst im Juni 2024 sind bei Schwäbisch Gmünd zwei Waggons eines ICE mit 185 Passagieren an Bord nach einem Erdrutsch entgleist – zum Glück ohne schlimmen Personenschaden. Schlimmer ging der Unfall bei Garmisch-Partenkirchen im Juni 2022 aus, bei dem fünf Menschen ums Leben kamen.
Immer wieder kommt es am Gleis der Deutschen Bahn zu schweren, lebensbedrohlichen und auch tödlichen Arbeitsunfällen. Allein im letzten Mai gingen in nur einer Woche vier Arbeitsunfälle bei der Bahn tödlich aus. Im letzten Jahr gab es mindestens elf schwerste oder tödliche Arbeitsunfälle bei der Bahn, und 2023 waren es mindestens zwölf (und vielleicht noch mehr) solche Unfälle.
Unvergessen sind der 19-jährige Bahn-Azubi Simon Hedemann, der bei der Installation von Leit- und Sicherheitstechnik (LST) in Hannover-Linden getötet wurde, sowie der Weichenmechaniker Ali Ceyhan (33), der in Köln-Trimbornerstraße vom Zug erfasst wurde und seinen schweren Verletzungen erlag. In beiden Fällen warten die Angehörigen bis heute auf eine Antwort von Richard Lutz und dem Bahn-Vorstand darüber, wie der genaue Unfallhergang war.
In den USA hat vor kurzem ein Aktionskomitee von Autoarbeitern damit begonnen, einen tödlichen Arbeitsunfall unabhängig zu untersuchen. Das Komitee ist Teil der Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees (IWA-RFC), die ausdrücklich davon ausgeht, dass das Leben und Wohlergehen der Arbeitenden und ihrer Familien höher stehen als die Profitinteressen der Manager und Aktionäre.
Am Wochenende fand in Detroit das erste Treffen dieses unabhängigen Aktionskomitees statt, und dort erklärte David North, der Leiter der internationalen WSWS-Redaktion, dass die schlimmen Arbeitsunfälle und Todesfälle am Arbeitsplatz eine unvermeidliche Folge des Kapitalismus sind.
Der Begriff „Unfall“ wird oft verwendet, aber ist dieser Ausdruck angemessen? Wer durch seine Wohnung geht und dabei stolpert, könnte das als Unfall bezeichnen. Aber wenn die Ereignisse mit erschreckender Regelmäßigkeit auftreten, (…) dann handelt es sich nicht mehr um bloße Unfälle im herkömmlichen Wortsinn. Wir sehen hier das Wirken der Notwendigkeit. Es ist das Produkt des Systems, in dem wir leben, nicht nur in diesem Land [den USA], sondern überall auf der Welt. Unser gesellschaftliches Leben, unser wirtschaftliches Leben ist so organisiert, dass es kontinuierlich diese Katastrophen hervorbringt, und das wird so weitergehen, solange kein Weg gefunden wird, das System zu beenden, das diese Katastrophen hervorbringt.
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