Die IG Metall hat für rund 60.000 Beschäftigte der nordwestdeutschen Stahlindustrie Reallohnsenkungen vereinbart. Nur Minuten bevor die Friedenspflicht gestern Nacht um 24 Uhr endete, hat sie die ohnehin unter Druck stehenden Stahlarbeiterinnen und -arbeiter dem Diktat der Stahlkonzerne unterworfen.
Für die Monate Oktober bis Dezember gibt es gar nichts. Ab Januar 2026 erhalten die Beschäftigten dann eine Entgelterhöhung von nur 1,75 Prozent. Die Auszubildendenvergütung steigt um 75 Euro im Monat. Die Laufzeit des Tarifvertrags beträgt 15 Monate, bis 31. Dezember 2026.
Knut Giesler, Verhandlungsführer und Bezirksleiter der IG Metall NRW, behauptet, „das ‚Projekt Verantwortung für den Stahl‘ wäre fast gescheitert. Zum Glück haben sich am Ende alle ihrer Verantwortung gestellt.“ Die Tarifparteien hätten damit einen wichtigen Beitrag für die Sicherheit der Beschäftigten und die Stabilisierung der Stahlindustrie geleistet.
Das ist eine Verdrehung der Tatsachen. Die IG Metall hat erneut die Reallöhne der Stahlbeschäftigten gesenkt, um die Profite der Stahlkonzerne zu retten. Es ist ein „Projekt Verantwortung für die Aktionäre der Stahlkonzerne“.
Derselbe Abschluss wird wahrscheinlich in den kommenden Tagen auch für die rund 8.000 Beschäftigten der ostdeutschen Stahlindustrie (v. a. Arcelor Mittal) vereinbart werden. Gleichzeitig wird er als Blaupause für die rund 15.000 Stahlarbeiterinnen und -arbeiter im Saarland (v. a. Dillinger Hütte und Saarstahl) sowie im baden-württembergischen Kehl (Badische Stahlwerke) und hessischen Wetzlar (Buderus) dienen. Dort beginnen die Tarifverhandlungen im November.
Die IG Metall hatte von Anfang an klargemacht, dass sie nicht für die Interessen der Belegschaften in die Tarifverhandlungen ging, sondern für die der Stahlkonzerne, für Thyssenkrupp, Salzgitter, Mannesmann, Outokumpu usw. „Angesichts der schlechten wirtschaftlichen Lage“ hatte die Gewerkschaft überhaupt keine prozentuale Entgeltforderung aufgestellt, sondern die Sicherung von „Beschäftigung, Reallöhnen und Fachkräften“ verlangt.
Der Arbeitgeberverband Stahl (AGV Stahl) hatte dies wohlwollend zur Kenntnis genommen, aber jede Entgelterhöhung abgelehnt. „Auch wenn anzuerkennen ist, dass die Gewerkschaft sich der dramatischen Lage der deutschen Stahlindustrie offenbar bewusst ist“, so der Hauptgeschäftsführer der AGV Stahl, Gerhard Erdmann, „übersteigt die Forderung nach einer Entgelterhöhung die Möglichkeiten unserer Industrie in der aktuellen wirtschaftlichen Lage.“
Die Stahlkonzerne sahen, anders als die IG Metall, auch keinen „Nachholbedarf“, obwohl die Gewerkschaft beim letzten Abschluss im Dezember 2023 bereits Reallohnsenkungen akzeptiert hatte. Für 2024 erhielten die Stahlbeschäftigten nur die von der damaligen Bundesregierung, den Gewerkschaften und Konzernen abgestimmte „Inflationsausgleichszahlung“ von 3000 Euro, die angesichts der Preisexplosion im Zuge von Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg vor allem Finanzlöcher stopften. Die tabellenwirksamen Erhöhungen von 5,5 Prozent kamen erst zu Beginn dieses Jahres.
Die Stahlkonzerne hatten in den Verhandlungen zunächst gar nichts angeboten, in der dritten Verhandlungsrunde am Dienstag letzter Woche dann eine tabellenwirksame Erhöhung der Löhne und Gehälter zum 1. Januar um 1,2 %. Für die Monate Oktober bis Dezember 2025 sollte es nichts geben, die Laufzeit 16 Monate betragen.
Die Verhandlungskommission der IG Metall, die um alles in der Welt einen Streik zu verhindern suchte, hatte eine Entgelterhöhung von 2,0 % ab Januar 2026 angeboten, die Laufzeit sollte ein Jahr bis Ende September 2026 betragen. Für die Monate Oktober bis Dezember 2025 hätten ihr eine Einmalzahlung von 300 Euro gereicht, die bei schlechter wirtschaftlicher Lage der Unternehmen auch wieder hätte gestrichen werden können.
Es gibt wohl keinen Stahlkonzern, der nicht in der Lage wäre, seine schlechte wirtschaftliche Situation darzulegen. Der AGV Stahl hatte bereits im Vorfeld auf die „Schwierigkeiten“ der Branche hingewiesen: „Als Beispiele seien die amerikanischen Zölle und ihre Umlenkungswirkung, ein fehlender wirksamer Außenhandelsschutz gegen unfaire Importe, eine fortschreitende Deindustrialisierung sowie die im internationalen Wettbewerb zu hohen Strom- und Energiekosten genannt.“
Deshalb bestand die Gewerkschaft darauf, dass IGM-Mitglieder auf jeden Fall 150 Euro erhalten sollten. Die Arbeitgeber lehnten die zweiprozentige Forderung ab, insbesondere aber die Bevorzugung der IGM-Mitglieder.
Noch am Montag gab die IG Metall eine Pressemitteilung heraus, in der sich der nordrhein-westfälische Bezirkssekretär Knut Giesler gegen einen Arbeitskampf aussprach und an die Konzerne appellierte: „Die Stahlindustrie in Deutschland kann zurzeit keine Warnstreiks gebrauchen. Arbeitgeber und Beschäftigte sollten an einem Strang ziehen, um die Branchen zukunftsfähig zu machen“. Darum sei die Gewerkschaft in dieser Tarifrunde einen „ungewöhnlichen Weg“ gegangen. „Wenn die Arbeitgeber diesen konstruktiven Weg nicht mitgehen wollen, wird es ab Mittwoch aber konfrontativ und zu Warnstreiks kommen.“
Am Montag wusste Giesler, dass er die Stahlbeschäftigten einen Tag später den Forderungen der Stahlkonzerne ausliefern würde. Er und der gesamte IGM-Apparat wollen auf keinen Fall Streiks, über die sie angesichts von massiven Entlassungen und Kürzungen in den Stahlkonzernen leicht die Kontrolle verlieren könnten. Thyssenkrupp will 11.000 von 27.000 Arbeitsplätzen abbauen, Arcelor Mittal hat die Investitionen in „grünen Stahl“ in Duisburg gestrichen, und das einzige hessische Stahlwerk Buderus in Wetzlar wird zerschlagen.
Einmal mehr zeigt sich, dass es keine gleichen Interessen von Beschäftigten und Konzernen gibt, wie die IGM-Funktionäre das weismachen wollen. Nur ihre Interessen decken sich mit jenen der Konzerne: Sie erhalten ihre Posten und Vergünstigungen solange der Konzern existiert.
Doch bei den Beschäftigten liegt die Sache anders. Ihre Verluste sind die Einnahmen der Aktionäre und Eigentümer. Wenn die IG Metall behauptet, „Arbeitgeber und Beschäftigte sollten an einem Strang ziehen“, ist das Augenwischerei. Um in diesem Bild zu bleiben: Die beiden Seiten ziehen an den entgegengesetzten Enden des Strangs – und es wird Zeit, dass die Beschäftigten endlich in ihre Richtung ziehen.
Dazu ist es dringend notwendig, sich unabhängig zu organisieren und dem Gewerkschaftsapparat den Kampf anzusagen. Von Beschäftigten bei Thyssenkrupp weiß die WSWS, dass dort viele Stahlarbeiter nach dem für sie verheerenden Sozialtarifvertrag den Austritt aus der IGM diskutieren. Dies kann ein wichtiger erster Schritt sein, wenn aus der Einsicht, dass die Gewerkschaft nicht die Belegschaftsinteressen vertritt, gleichzeitig die Schlussfolgerung gezogen wird, selbst aktiv zu werden – in unabhängigen Aktionskomitees. In solchen Komitees müssen sich die Beschäftigten organisieren, die kämpfen wollen. IGM-Funktionäre oder freigestellte Betriebsräte der Gewerkschaft – Handlanger der Konzernspitze – haben darin nichts zu suchen, dafür müssen Unvereinbarkeitsbeschlüsse sorgen.
Denn dem IGM-Apparat darf nicht das Feld überlassen werden. Vielmehr müssen die gewerkschaftlichen Funktionäre und ihre Betriebsräte zur Rechenschaft gezogen werden. Ihnen muss jegliches Mandat für Verhandlungen entzogen werden. Diese Aufgabe müssen vertrauenswürdige, aus den Aktionskomitees gewählte Kolleginnen und Kollegen übernehmen.
Die Aktionskomitees in den trotz anhaltendem Kahlschlag zahlreichen Stahlkonzernen müssen sich untereinander vernetzen und gemeinsame Kampfmaßnahmen abstimmen, auch Streiks. Die Abwärtsspirale nach unten, bei der die Beschäftigten im Kampf um Profite die Kosten von Handelskrieg, Aufrüstung und Krieg zahlen, muss gestoppt werden.
Sie kann gestoppt werden, wenn die Stahlbelegschaften in Deutschland ihre Verbündeten nicht im Apparat der IG Metall und erst recht nicht in den Konzernen suchen, sondern bei den Stahlbelegschaften in Europa, den USA und China, die alle mit den gleichen Angriffen zu kämpfen haben.
Wir rufen die Stahlarbeiterinnen und Stahlarbeiter in Deutschland auf, sich jetzt aktiv einzubringen. Sonst folgt die Stahlindustrie der Kohleindustrie. 2018 schloss in Bottrop die Zeche Prosper-Haniel, das letzte Steinkohlebergwerk in Deutschland.
Schreibt uns eine Whatsapp unter +491633378340 und füllt das untenstehende Formular aus, um die Verteidigung der Arbeitsplätze und Löhne anzugehen.