Ausgerechnet am 9. November, am Gedenktag an die Reichspogromnacht, wurde auf der Gedenkveranstaltung der jüdischen Gemeinde Frankfurt der amerikanisch-jüdische Philosoph und Holocaustforscher Jason Stanley zum Abbruch seiner Rede genötigt.
Stanley hatte sich in seiner Rede auf die wichtige Rolle berufen, die jüdische Denker wie Moses Mendelsohn im kulturellen Leben Deutschlands und im Kampf für die Ideen der Aufklärung spielten, und ging dabei auch auf seine eigene Familie ein. Von diesem liberalen Standpunkt kritisierte er im Verlauf seiner Rede den Zionismus und die Gräueltaten Israels im Gazastreifen. Das war Teilen des Publikums offensichtlich zu viel. Stanley wurde niedergebrüllt, und der anwesende Rabbiner drängte ihn zum Abbruch seiner Rede.
Der US-Professor war schockiert. Einen derartigen Bruch mit den liberalen Traditionen, für die gerade die Frankfurter Gemeinde einst bekannt war, hätte er nicht erwartet, zumal nicht nur in USA, sondern auch in Deutschland viele jüdische Studierende und Künstler die Palästinenser verteidigen.
Seiner Rede hatte Stanley als Motto die Worte des liberalen Rabbiners Leo Baeck vorangestellt: „Ein Jude fragt nicht, was er glauben soll, sondern was er tun soll. Was sollen wir heute tun?“
Der gesamte Tenor seiner Rede war darauf abgestimmt, die Verdienste des Liberalismus und der Aufklärung zu betonen, die besonders auch von deutschen Juden erkämpft wurden und hinter denen auch er selbst stehe. Er sei eng mit diesem Religionsverständnis verbunden.
Er begann mit Schilderungen aus seiner Familiengeschichte und ihrer Verbindung mit diesen Traditionen. Sein Urgroßvater, Magnus Davidsohn, war von 1912 bis zur Reichspogromnacht, während der gesamten Existenz der Synagoge an der Berliner Fasanenstraße, deren Hauptkantor. Leo Baeck war viele Jahre lang ihr Rabbiner.
Sein Vater, der Soziologe Manfred Stanley, musste 1939 als Kind aus Deutschland fliehen. Dessen Mutter, die Schauspielerin Ilse Stanley, aus deren Memoiren Die Unvergessenen (deutsche Ausgabe 1964) er in Frankfurt zitierte, hatte verkleidet als Sozialarbeiterin Juden aus dem KZ Sachsenhausen gerettet. 1939 gelang ihr selbst die Flucht in die USA.
Seine Mutter wurde 1940 auf der Flucht aus Polen geboren und überlebte den Krieg in der Sowjetunion als Waise. Fast alle Verwandten mütterlicher Seite wurden im Vernichtungslager Sobibor ermordet, darunter Stanleys Urgroßmutter und mehrere Großonkel.
Wie er in seiner Rede ausführte, verkörperte die Familie seines Vaters eine deutsch-jüdische Tradition, die sich tief mit Deutschland identifizierte. Sein Urgroßvater sei, bevor er Kantor wurde, wie sein Bruder Max Opernsänger und Mitglied des ursprünglichen Wagner-Ensembles gewesen.
Für meine Familie war es völlig unverständlich, dass irgendjemand sie nicht als Deutsche ansehen könnte. Deutschland war für sie ein Land, in dem Menschen verschiedener Religionen im Grunde dazugehörten. Doch 1935 wurde meinem Vater, seinen Eltern und Großeltern die Staatsbürgerschaft aberkannt, trotz dieser tiefen Verbundenheit mit ihrem Land.
Zu Recht wies Stanley auf den großen Beitrag jüdischer Intellektueller und Künstler zur deutschen Kultur hin. „Der Verlust der liberalen intellektuellen Tradition der deutschsprachigen Juden ist eine große Tragödie,“ erklärte er.
Stanley selbst hatte seine akademische Ausbildung zum Teil in Deutschland absolviert und lehrte an mehreren amerikanischen Universitäten. In diesem Herbst wechselte er unter dem Eindruck, dass das Klima in den USA unter Präsident Donald Trump immer reaktionärer werde, von der US-Universität Yale an die kanadische Universität in Toronto. Er erklärte, dass er seine Kinder in einem Land großziehen wolle, „das nicht auf eine faschistische Diktatur zusteuert“.
Stanley hatte die israelischen Militäraktionen in Gaza von Beginn an scharf kritisiert und ein Ende der israelischen Angriffe gefordert. Die jüdische Gemeinde wusste also, wen sie zu ihrer Gedenkfeier einlud.
An einer Stelle seiner Rede in Frankfurt kontrastierte Stanley seine liberale Staatsauffassung mit der des Faschismus:
Laut dem NS-Politiktheoretiker Carl Schmitt entsteht eine Nation durch die Wahl eines Feindes. Die Wahl eines Feindes vereint ansonsten unterschiedliche Elemente einer Gesellschaft. Die Nazis wählten die Juden. Zu anderen Zeiten, an anderen Orten wurden andere Gruppen als Sündenböcke ausgewählt – Muslime, Schwarze, Transsexuelle. Die Konstruktion einer Nation auf der Grundlage der Wahl eines rassischen, ethnischen, religiösen oder sexuellen Feindes ist der Kern des Faschismus.
Die Ideale der liberalen Demokratie dagegen seien Freiheit und Gleichheit. Gleichheit bedeute, „dass keine Gruppe über eine andere gestellt wird“. Deutsche Juden, die diese Ideale verteidigten, wurden zum Ziel des Hasses der Nazis.
Nach dieser Passage und seiner Solidarisierung mit den „Passdeutschen“, d.h. Migranten, die heute wieder angefeindet würden, erhielt Stanley noch Applaus.
Die Hinwendung zum Zionismus und einem rein jüdischen Staat bezeichnete er als denkbare Lehre aus der Judenverfolgung der Nazis, die jedoch viele liberale jüdische Intellektuelle nicht teilten. Diese lehnten, wie sein Vater und er selbst, „die Idee eines Staates ab, der auf Ethnizität, Rasse oder Religion basiert, auch wenn es unsere eigene ist. Andere verurteilen schlicht das Apartheid-System des Staates Israel und fühlen sich mit dem Schicksal des palästinensischen Volkes verbunden.“
Seine Eltern seien in dieser Frage tief gespalten gewesen. Die Mutter war der Idee eines jüdischen Nationalstaates zutiefst verpflichtet, der Vater lehnte sie ab. Er verstehe den Standpunkt der Mutter, auch wenn er anderer Meinung sei.
Am Ende seiner Rede geht Stanley auf die Gefahren des Rechtsrucks in vielen Teilen der Welt ein:
Wir erleben in Deutschland erneut den Aufstieg dieser Kräfte, die behaupten, Einwanderung bedrohe die Tradition der europäischen Aufklärung und die vermeintliche Größe Deutschlands. Doch der Kerngedanke der europäischen Aufklärung ist die gemeinsame Menschlichkeit aller Menschen. Der Kern des Nationalsozialismus hingegen ist das Gegenteil. Angesichts der Schrecken der Reichspogromnacht müssen wir uns auf ein Deutschland verpflichten, das frei ist von der vergifteten Ideologie, die zur Vertreibung meiner deutschen Familie und zum Massenmord an meiner polnischen Familie führte.
Stanley bezeichnete die „Unterstützung des Massenmords der Hamas an unserem Volk am 7. Oktober“ als „unerträglichen Antisemitismus“. Antisemitismus sei aber auch, „einzelne Juden für Israels Handeln verantwortlich zu machen“. „Kritik an den Gräueltaten Israels im Gazastreifen“ und „Kritik an Israels langjähriger ungleicher Behandlung des palästinensischen Volkes“ sei hingegen kein Antisemitismus. Er fügte hinzu: „Eine beträchtliche Minderheit der amerikanischen Juden steht Israels Umgang mit den Palästinensern kritisch gegenüber. Unter jungen amerikanischen Juden ist die Zahl der kritischen Stimmen deutlich größer.“
Dies ging etlichen Zuhörern offenbar zu weit.
Dann kritisierte Stanley, ohne sie direkt zu benennen die in Deutschland inzwischen übliche Praxis, jede Kritik an der israelischen Regierung und ihrem grausamen Vorgehen in Gaza als Antisemitismus zu verfolgen. Deutschland scheine „entschieden zu haben, dass nur jene jüdischen Stimmen zählen, die Israel bedingungslos unterstützen“. Die Deutschen hätten sich so „die Macht angemaßt, zu bestimmen, wer jüdisch ist und wer nicht“. Das sei unerträglich.
Stanley verteidigte die Journalistin Masha Gessen, die 2023 den Hannah-Ahrendt-Preis der Heinrich-Böll-Stiftung erhalten hatte. Die Preisverleihung war jedoch abgesagt worden, weil sie in der New York Times Gaza mit einem jüdischen „Ghetto in einem von Nazis besetzten osteuropäischen Land“ verglichen hatte.
Auch Hannah Ahrendt, die einen Staat befürwortet habe, „der Juden und Palästinensern die gleichen Rechte als gleichberechtigte Bürger einräumt,“ dürfte heute in Deutschland nicht mehr sprechen, folgerte Stanley. Dasselbe gelte für Albert Einstein, der „einen binationalen Staat mit freier Einwanderung für Palästinenser und Juden“ unterstützt habe.
Das war den Verantwortlichen der Jüdischen Gemeinde dann offenbar zuviel „Liberalität“. Das letzte Drittel seiner Rede konnte Stanley nicht mehr halten. Der Rabbiner Julien Chaim Soussan, der sich bereits auf der Bühne für das Trauergebet El Male Rachamim bereitgehalten hatte, sprach den Redner direkt an, er möge doch zu einem Ende kommen. Der verließ daraufhin schockiert die Synagoge durch einen Seiteneingang, da er am Haupteingang mehrere aufgebrachte Leute bemerkt hatte.
In einem Interview mit der taz erklärte Stanley später: „Leute im Publikum haben mich angeschrien. Es gab auch Beifall für meine Rede. Aber manche haben nur gebrüllt.“ Er habe die Reaktion nicht verstanden. Die jüdische Gemeinde, die ihn eingeladen habe, hätte seiner Meinung nach dafür sorgen sollen, dass er seine Rede zu Ende halten könne. „Es ging darin um die Reichspogromnacht und das Erbe des Liberalismus. Dazu gehört auch die Meinungsfreiheit.“ Er bezeichnete die Reaktion der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt als „ein Verrat an der liberalen, deutsch-jüdischen Tradition“.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung druckte eine leicht gekürzte Fassung der gesamten Rede ab, die jedoch inzwischen wieder hinter eine Paywall gestellt wurde.
Die Jüdische Gemeinde Frankfurt distanzierte sich am nächsten Tag von dem Redner. Benjamin Graumann, der Vorsitzende der Gemeinde, wies die Vorwürfe des amerikanischen Philosophen zurück und beschuldigt ihn, eine Gedenkveranstaltung zum 9. November für provozierende Belehrungen ausgenutzt zu haben. Wer andere als zionistische Schlussfolgerungen aus den Naziverbrechen zieht, darf offenbar nicht darüber reden. Soviel zu Demokratie und Meinungsfreiheit.
