Der Film „Das Verschwinden des Josef Mengele“ des russischen Regisseurs Kirill Serebrennikow, der derzeit in deutschen Kinos läuft, ist ein herausragendes Werk, das beim Zuschauer dennoch ein Gefühl der Ratlosigkeit hinterlässt.
Josef Mengele ist neben Adolf Eichmann das bekannteste Gesicht des Holocaust. Der 1911 im süddeutschen Günzburg geborene Sohn einer Industriellenfamilie schickte als „Todesengel von Auschwitz“ Hunderttausende in den Tod. Er stand an der Rampe, wenn die mit Menschen vollgepackten Viehwagen ankamen, und entschied per Handbewegung, wer direkt ins Gas ging (vor allem Kinder, schwangere Frauen, Ältere und Arbeitsunfähige), wer einen langsameren Tod durch Zwangsarbeit erlitt und wer den grausamen medizinischen Experimenten ausgesetzt wurde, die der ausgebildete Arzt und Rassentheoretiker mit seinem Team durchführte.
Der Film konzentriert sich auf die dreißig Jahre, die Mengele nach der Niederlage des Nazi-Regimes im lateinamerikanischen Exil verbrachte. Der KZ-Arzt hatte sich erst vier Jahre lang in Deutschland versteckt und war dann 1949 über die sogenannte „Rattenlinie“ nach Argentinien geflohen, wo Nazis unter Präsident Juan Perón keine Verfolgung fürchten mussten. Alte Nazi-Seilschaften, der Vatikan, die spanische Franco-Diktatur sowie amerikanische Geheimdienste halfen damals auf diese Weise tausenden deutschen Kriegsverbrechern zur Flucht.
Der Film zeigt, wie Mengele, der anfangs dank der großzügigen Unterstützung seiner Familie ein wohlhabendes Leben führte, immer tiefer absinkt und nach und nach physisch und psychisch zerfällt. Obwohl sich die deutschen Behörden bis 1959 weigerten, einen Haftbefehl gegen den international gesuchten Kriegsverbrecher auszustellen, und er auf die Rücksicht der südamerikanischen Regierungen zählen konnte, fühlte sich Mengele zunehmend verfolgt und wechselte immer wieder den Aufenthaltsort und das Land. Vor allem als der israelische Geheimdienst 1960 Adolf Eichmann aus Argentinien entführte, wuchs seine Angst – obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits in Paraguay lebte und auf die Unterstützung des deutschstämmigen Diktators Alfredo Stroessner zählen konnte.
Alle Szenen des Films – bis auf eine Ausnahme, auf die wir noch eingehen werden – sind in kontrastreichem Schwarz-Weiß gedreht und mit einem düsteren Sound unterlegt. Das verleiht dem Film eine formale Strenge, die eine Identifikation mit dem Protagonisten verhindert und eine beklemmende Spannung erzeugt.
Obwohl die Kamera vor Großaufnahmen des Körpers Mengeles nicht zurückschreckt und die Nähe zu ihm manchmal schwer zu ertragen ist, weckt der Film keinerlei Empathie. Es geht ihm nicht darum, die „menschliche Seite“ des Massenmörders zu zeigen, sondern nachzuzeichnen, wie dessen mangelnde Einsicht in seine Verbrechen und sein Festhalten am nationalsozialistischen Rassenwahn ihn immer tiefer in den Abgrund führen.
Hatte Mengele 1958 noch gemeinsam mit Nazi-Freunden in einem rauschenden Fest seine zweite Hochzeit gefeiert, verbrachte er seine letzten Lebensjahre als erbitterter, grauhaariger alter Mann in einem verschimmelten Dreckloch in einem ärmlichen Viertel von Sao Paulo. 1979 starb er bei einem Badeunfall. Es dauerte aber noch Jahre, bis seine Leiche eindeutig identifiziert wurde.
Der zweistündige Film zeigt einen Verbrecher, der die Nazipropaganda immer wieder in allen Tonarten herunterbetet – mal leise, mal brüllend. Er rechtfertigt alles, was er getan hat, und sieht sich als Opfer, weil andere sich nicht verstecken müssen und in Deutschland Karriere machen, obwohl sie Ähnliches wie er getan haben. An einer Stelle zählt er die Namen mehrerer Ärzte auf, mit denen er in Auschwitz zusammengearbeitet hat, und schildert detailliert die bestialischen Methoden, mit denen sie ihre Studienobjekte zu Tode gequält haben. Je älter und verbitterter Mengele wird, desto heftiger werden seine rassistischen Ausbrüche, die schließlich auch Helfer und Freunde vergraulen.
August Diehl spielt diesen Mengele meisterhaft. Der 1976 in West-Berlin geborene Schauspieler hat an mehreren Dutzend Filmen mitgewirkt und ist Mitglied des Ensembles des Wiener Burgtheaters. Lesern der WSWS dürfte er vor allem durch seine hervorragende Darstellung von Karl Marx in Raoul Pecks „Der junge Marx“ bekannt sein.
Diehl verkörpert Mengele über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten – vom gutgelaunten SS-Offizier in Auschwitz bis zum alten, cholerischen Mann in Brasilien. Der Film bewegt sich dabei immer wieder von einer Zeitebene zur anderen. Die Handlung läuft nicht chronologisch ab, sondern springt vor und zurück – was die Veränderungen des Protagonisten noch deutlicher macht.
Das Drehbuch des Films stützt sich auf den gleichnamigen, 2017 erschienen Roman des französischen Autors Olivier Guez, der dafür drei Jahre lang intensiv recherchiert hat. Guez kennt sich in der Materie aus. Er hat auch das Drehbuch zum Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“ mitverfasst, der die Rolle des Frankfurter Generalstaatsanwalts beim Aufspüren von Adolf Eichmann zum Thema hat. Bauer, der 1963 den ersten Auschwitzprozess anstrengte, nahm an der deutschen Regierung vorbei mit dem israelischen Geheimdienst Kontakt auf, weil die Adenauer-Regierung Eichmann deckte.
Obwohl sich der Film ganz auf die Person Mengeles konzentriert, zeichnet er ein verheerendes Bild der deutschen Gesellschaft – oder besser: ihrer herrschenden Eliten. Sie haben so wenig ein Unrechtsbewusstsein wie Mengele selbst.
Eine Schlüsselszene des Films ist Mengeles historisch verbürgter Besuch bei seiner Familie in Günzburg im Jahr 1956. Die deutsche Botschaft in Argentinien hatte ihm einen Reisepass auf seinen echten Namen ausgestellt, mit dem er unbehelligt einreisen konnte.
Während des Abendessens im Familienkreis, das von vier livrierten Bediensteten serviert wird, versuchen der stockkonservative Familienpatriarch (gespielt von Burghart Klaußner) und ein Bruder Josef Mengele zu überzeugen, in Deutschland zu bleiben. Aus Günzburg habe man als größter Arbeitgeber und Mäzen der Stadt nicht zu befürchten, und was die Bundesregierung betreffe, so habe Adenauers Kanzleramtsminister Globke, der Mitautor der Nürnberger Rassengesetze, doch selbst zur Aussonderung der Juden beigetragen. Auch dort habe man kein Interesse, gegen Josef Mengele vorzugehen. Doch dieser hält das Risiko für zu hoch und reist zurück nach Argentinien.
Eine weiteres Schlüsselereignis, auf das der Film mehrmals zurückkommt, ist der Besuch von Mengeles Sohn Rolf bei seinem Vater zwei Jahre vor dessen Tod. Rolf ist ein typisches Kind der Nachkriegsgeneration – lange Haare, Jeans und liberale Ansichten. Er ist heimlich zu seinem Vater gereist, weil die Familie ihn darum bat. Nun will er wissen, ob Mengele in Auschwitz wirklich getan hat, was ihm vorgeworfen wird. Doch er erhält keine Antwort. Mengele weicht aus, beschuldigt Rolf, jüdischer Propaganda auf den Leim zu gehen, agitiert ihn mit Nazipropaganda und verlangt, dass er sich die Haare schneide, bevor er ernsthaft mit ihm Rede.
Nach diesem ersten Zusammenstoß mit seinem Sohn schweifen Mengeles Gedanken zurück nach Auschwitz. Die Szenen sind – als einzige im Film – in Farbe gehalten und im Stil eines Amateurfilms gedreht. Es war offenbar die schönste Zeit in Mengeles Leben. Man sieht, wie er am Badesee mit seiner ersten Frau flirtet – und man sieht, wie er an der Rampe selektiert und seine Menschenversuche durchführt. Die Szenen sind nur schwer zu ertragen.
Rolf versucht immer wieder, die Wahrheit zu erfahren. Am Schluss schmeißt ihn sein Vater raus. Trotzdem verabschiedet er sich am nächsten Tag mit einer Umarmung.
Der Film zeichnet ein beeindruckendes Bild Mengeles als unbelehrbarer Nazi und seiner Umgebung, die ihn beschützt und unterstützt. Doch welche Schlussfolgerungen soll man daraus ziehen? Darauf gibt der Film keine Antwort, noch nicht einmal einen Hinweis. Wie es in einer Rezension heißt: „Kirill Serebrennikows Film gibt keine bequemen Antworten, er rührt auf, verstört und stellt unbequeme Fragen nach Geschichte, Verstrickung und Verantwortung.“
Das ist nicht wenig. In einer Zeit, in der Rechte und Faschisten in zahlreichen Ländern wieder auf dem Vormarsch sind – von den USA über Italien und Frankreich bis nach Deutschland – sind diese Fragen wichtig. Sowohl der Hauptdarsteller August Diehl wie der Regisseur Kirill Serebrennikow haben die aktuelle Relevanz des Films betont.
Auf einer Pressekonferenz erklärte Diehl, dass Mengele keine Ausnahme sei: „Das sind Menschen, die in einem bestimmten System, in Kriegssituationen, in Diktaturen wie Pilze aus dem Boden schießen, weil sie plötzlich gebraucht werden. Eine Diktatur braucht Psychopathen. Sie bekommen plötzlich ganz normale Jobs, zum Beispiel als Polizisten oder Ärzte. Und das ist überall so, auch heute noch.“
Diehl fuhr fort: „Ich denke, dass diese Menschen in einer gesünderen Gesellschaft nicht so hoch aufsteigen würden. In einer kranken Gesellschaft hingegen steigen sie sehr hoch auf. Das war auch eine sehr wichtige Erkenntnis für mich: Diese Systeme existieren in unserer Welt immer noch. Derzeit ist die Lage wirklich schrecklich, was vielleicht auch damit zu tun hat, dass eine bestimmte Erinnerungskultur nicht gepflegt wird, dass wir diese Menschen vergessen, diese Phänomene vergessen, dass sich die Dinge tatsächlich wiederholen ...“
Diehl trifft hier einen wichtigen Punkt. Die Gesellschaft ist tatsächlich krank. Grund ist aber nicht einfach die fehlende Erinnerungskultur, sondern die kapitalistische Grundlage der Gesellschaft. 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bereitet die herrschende Klasse Deutschlands erneut auf einen Krieg gegen Russland vor und Historiker revidieren die deutsche Geschichte, um den Faschismus zu rechtfertigen. Der Film verdient ein breites Publikum.
