Wessen Freiheit? Zum Kurzfilm „Whispers of Freedom“

Am 2. Oktober findet die Premiere des Kurzfilms „Whispers of Freedom“ des britischen Regisseurs und Schauspielers Brandon Ashplant im Berliner DDR-Museum statt. Er erzählt die tragische Geschichte des letzten Mauertoten Chris Gueffroy, der am 5. Februar 1989 bei einem Fluchtversuch an der Grenze zu Westberlin erschossen wurde, wenige Monate vor dem Mauerfall am 9. November. Geplant ist, diesen Film danach dauerhaft in die Ausstellung des Museums einzubinden.

Filmplakat "Whispers of Freedom"

Dass am Abend vor dem 35-jährigen Jubiläum der Wiedervereinigung und des Endes der DDR dieser Film so prominent gezeigt wird, ist kein Zufall. Ungeachtet der Absichten des Regisseurs, der gestützt auf Gespräche mit der Mutter von Chris Gueffroy und in Zusammenarbeit mit der in der DDR geborenen, jungen Historikerin Katja Hoyer (Katja Hoyer: Diesseits der Mauer: Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990, Hoffmann und Campe 2023) um Authenzität bemüht ist und versucht, die üblichen Klischees zu vermeiden, ja sogar positive Seiten der DDR zu zeigen, mündet sein Film letztlich in der Falle alter Lügen über Sozialismus.

Schon der Beginn des Films setzt dafür den Rahmen: Man hört die pathetische Ansprache eines Sprechers des DDR-Radios im Oktober 1989 zum 40. Jubiläum der DDR. Er lobt sie als „Vorposten für Frieden und Sozialismus“ und sagt ihr eine grandiose Zukunft voraus, während die Mutter von Chris Gueffroy, zusammengesunken in ihrem abgedunkelten Zimmer, verzweifelt um ihren toten Sohn weint.

Hier wird die falsche Behauptung, das stalinistische Regime der DDR sei Sozialismus gewesen, in den Raum gestellt. Sie bleibt auch im folgenden Verlauf unwidersprochen.

In einer Rückblende kündet derselbe Radiosender den Machtantritt von Gorbatschow in der Sowjetunion am 18. Juli 1985 an. Danach ein Schnitt zu Chris und seinem Freund Christian, die auf ihren Schulabschluss anstoßen – mit zwei Flaschen Bier aus dem Westen, die Christian organisiert hat. Er fange seinen Armeedienst in einem Monat an, sagt er und lässt gequält das Wort „Nationale Volksarmee“ (NVA) auf der Zunge zergehen, „Volksarmee, so ein Blödsinn“. Auf die Frage, wann Chris den Armeedienst anfängt, erklärt dieser, er werde ihn nicht antreten. Sein Freund darauf skeptisch, er könne dann beruflich nichts machen, „nicht an die Universität, nicht Schauspieler werden, nicht deinen Pilotenschein machen“. Chris lächelt mit Blick auf Gorbatschow: „Die Dinge ändern sich.“

Danach kommt es auch zum Wortwechsel mit seiner Mutter und seinem Bruder. Als er sagt, er wolle den Armeedienst nicht antreten, sie verlassen und „nach Amerika“ reisen, reagiert seine Mutter entsetzt. Er habe im Westen keine Chancen, in der DDR gebe es dagegen soziale Sicherheit, keine Obdachlosen, für jeden Arbeit, Bildung und eine Wohnung. Doch Chris antwortet verächtlich, es gebe mehr im Leben als „Arbeit ohne Geld, nach der man in eine schäbige Wohnung zurückkommt“. Seine Mutter starrt ihn an – „unser Zuhause!“. Sein Bruder in Uniform blickt durch die Tür und wirft ihm vor, sich für etwas Besseres zu halten.

Erneut blendet der Film eine Radiosendung ein, die seine Mutter neben dem Abwaschen anhört: Ein SED-Sprecher versucht, die Politik von Gorbatschow, die unter der Parole von Glasnost mehr Öffnung und Freiheit in der Sowjetunion verspricht, als irrelevant für die DDR darzustellen. Hier gebe es bereits genügend Freiheit, sowie anders als im Westen keine Armut, Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit.

Chris schaltet das Radio aus, „totaler Unsinn“, ruft er. Inzwischen wurde ihm tatsächlich eine Schauspielerausbildung verwehrt, er lernt als Kellner in einem Berliner Restaurant. Beim Besuch eines hohen Stasi-Funktionärs lauscht er dessen Gespräch mit dem Restaurant-Leiter, in dem er andeutet, der Schießbefehl an der Mauer könnte während des Besuchs des schwedischen Regierungschefs am 5. Februar zeitweilig aufgehoben werden. Für Chris die Entscheidung zur Flucht. Sein Freund zögert, mahnt zur Vorsicht, es sei „nicht so schlecht“ in der DDR, verweist erneut auf die Gefahr, berufliche Möglichkeiten zu verlieren. Aber Chris beharrt darauf: „Freiheit“ sei wichtiger. Es gebe keine Zukunftsperspektive in der DDR, außer „in kleinen Wohnungen“ zu leben, er wolle in andere Länder reisen, nach Amerika.

Sein Freund lässt sich letztlich überreden. Und nur er überlebt. Die letzten Filmbilder zeigen, wie der Verletzte von zwei Grenzsoldaten durch einen Tunnel abgeführt wird.

Der Film „Whispers of Freedom” zeichnet Handlung und Dialoge lebensecht und ansprechend, auch dank der überzeugenden Schauspieler. Doch gerade dies macht ihn geeignet für die heutige Propaganda von Regierung und Medien, die angesichts wachsender Radikalisierung in der Jugend gegen Krieg und die faschistische Gefahr versuchen, sozialistische Ideen zu diskreditieren.

Er ist nicht plump antikommunistisch, aber vermittelt unterschwellig die altbekannte Botschaft: Freiheit statt Sozialismus! Oder anders gesagt: Wenn ihr heute gegen Krieg und Diktatur auf die Straßen geht, dann befasst euch lieber nicht mit sozialistischen Ideen.

Die Gleichsetzung von Sozialismus und Stalinismus war die große Lüge des 20. Jahrhunderts. Die DDR orientierte sich an Stalins reaktionärer Politik des nationalen „Sozialismus in einem Land“, die den Fortschritt der Oktoberrevolution und ihre Weiterentwicklung in anderen Ländern blockiert und zum Terror gegen die alte Garde der Bolschewiki in den 30er Jahren geführt hatte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg strebte Stalin aufgrund der Vereinbarungen mit Churchill, Roosevelt und De Gaulle auf dem sowjetisch besetzten Gebiet zunächst ein bürgerlich-demokratisches Regime an und ließ mithilfe der aus Moskau entsandten Ulbricht-Gruppe alle spontanen Versuche von Arbeitern unterdrücken, die Betriebe zu enteignen, die faschistischen Manager zu verjagen und zu bestrafen. Erst nach der Währungsreform und Einführung der D-Mark auch in Westberlin wurde die DDR gegründet und die Industrie, sowie später die Landwirtschaft verstaatlicht.

Damit wurden zwar die Eigentumsverhältnisse in fortschrittlicher Weise verändert, und die Arbeiterklasse erhielt eine stärkere Position durch sichere Arbeitsplätze, kostenlose Bildung, Kultur, Gesundheitssystem und Kinderbetreuung. Zugleich wurde sie jedoch politisch unterdrückt und ihre Verbindung zur internationalen Arbeiterklasse abgeschnitten. Mit Sozialismus, der bedeutet, dass die Arbeiter international die politische Macht übernehmen, das kapitalistische Profitsystem beseitigen, die Gesellschaft nach den Bedürfnissen der ganzen Bevölkerung umorganisieren und letztlich die Klassenunterschiede abschaffen, hatte dies nichts zu tun.

Die Behauptung, die SED-Diktatur sei „realer Sozialismus“, diente im Kalten Krieg dazu, antikommunistische Vorurteile in der Arbeiterklasse im Westen zu schüren. Nach dem Fall der Berliner Mauer und der Auflösung der Sowjetunion triumphierten Politik und Medien, der Sozialismus sei endgültig tot.

Doch die Frage einer Alternative zum Kapitalismus kommt in diesen Tagen wieder mit aller Macht zurück, und damit auch die Perspektive des Sozialismus.

Der Film muss im Zusammenhang mit den neuerlichen Diskussionen und Publikationen über die DDR gesehen werden und insbesondere mit dem Versuch, die Toten an der Berliner Mauer wieder zu Propaganda-Zwecken zu benutzen.

Ein Monat nach der Filmpremiere am 2. Oktober beginnt in Berlin erstmalig eine „Berlin Freedom Week“ (8.-15. November), die auch in den kommenden Jahren stattfinden soll. Die Veranstaltungen, darunter am 10. November eine „Berlin Freedom Conference“ mit internationalen Vertretern von Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien, werden scheinheilig dem Thema „Freiheit, Demokratie und Menschenrechte“ gewidmet, ausgerechnet nach Wochen und Monaten autoritärer Angriffe des CDU-geführten Senats auf Jugendliche, die gegen den Völkermord in Gaza demonstrierten.

Bezeichnenderweise gehören zu den Initiatoren für die „Freedom Week“ neben solch rechten Institutionen wie Axel Springer Freedom Foundation und dem World Liberty Congress auch der Berliner Beauftragte der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Diese notorisch rechtslastige, antikommunistische Stiftung hat neben dem DDR-Museum auch die Produktion des Kurzfilms „Whispers of Freedom“ gefördert. Im historischen Beirat sitzen der als rechtsextrem eingestufte Osteuropa-Professor Jörg Barberowski sowie Professorin Claudia Weber, die den Vernichtungskrieg Hitlers gegen die Sowjetunion in einen Angriffskrieg der Sowjetunion ummünzen will.

Jugendliche sollten sich den Film mit kritischem Blick anschauen und folgende Frage stellen: Welche Freiheit bietet heute der Kapitalismus? Wenn jemand seine Meinung zum Völkermord in Gaza sagt oder gar dagegen demonstriert, muss er oder sie mit Zensur und Polizeigewalt rechnen. Wäre Chris heute ein junger Mann, hätte er angesichts Wiedereinführung der Wehrpflicht ähnliche Schwierigkeiten mit der Bundeswehr, wie mit der NVA in der DDR. Sollte die Bundeswehr in direkte Kampfhandlungen gegen Russland einbezogen werden – denn dafür wird gegenwärtig aufgerüstet –, müsste er, wie heute schon in der Ukraine, eine gewaltsame Rekrutierung für den Tod an der Front befürchten.

Auch die Freiheit, in andere Länder zu reisen, entpuppt sich mehr und mehr als Illusion. Hat man nicht den richtigen Pass, droht die Inhaftierung in Lagern an den Grenzen oder der Tod an den unüberwindbaren Mauern der Festung Europa. Allein im Mittelmeer sind seit 2014 32.000 Flüchtlinge ertrunken, während der 28-jährigen Existenz der Berliner Mauer fanden dagegen etwas mehr als hundert Menschen den Tod.

Interessanterweise hat der Film von Brandon Ashplant eine Szene über kubanische Vertragsarbeiter in der DDR eingeflochten. Sie machen eine Ausbildung in der DDR, und obwohl sie durch SED-Funktionäre teilweise verächtlich behandelt werden, schwärmt ein Arbeiter gegenüber Chris, der Arbeitsvertrag ermögliche ihm, die Isoliertheit der Insel Kuba zu überwinden und andere Länder kennenzulernen. „Andere Länder kennenlernen“, murmelt Chris mit ironischem Unterton.

Wäre er heute jung, müsste er das damalige Versprechen von Freiheit nur noch als zynisch empfinden – angesichts Tausender Flüchtlinge, die die EU an den Grenzen gewaltsam zurückdrängt, auch angesichts der Mauer und dem Schießbefehl an der mexikanischen Grenze zur USA, dem damaligen Sehnsuchtsort von Chris, wo inzwischen ein faschistischer Präsident alle demokratischen Rechte zerstört.

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