Dies ist der erste Teil des Vortrags „Internationalistischer Sozialismus vs. nationalistischer Reformismus“, den Clara Weiss, Chris Marsden und Peter Symonds bei der Sommerschulung 2025 der Socialist Equality Party (US) über die Geschichte der Untersuchung „Sicherheit und die Vierte Internationale“ gehalten haben.
Im Mittelpunkt dieses Vortrags stehen die strategischen Erfahrungen der internationalen Revolution, auf deren Grundlage sich die trotzkistische Bewegung als einzige Fortführung des revolutionären Marxismus im 20. und 21. Jahrhundert konsolidierte. Im Zentrum des historischen Kampfs des Trotzkismus gegen den Stalinismus stand die Perspektive der internationalen sozialistischen Revolution.
Einer der ersten großen Schauplätze, an dem dieser grundlegende Konflikt in der historischen Perspektive und Klassenorientierung zutage trat, war die sowjetische Wirtschaftspolitik. Am 15. Oktober 1923 erklärten 46 alte Bolschewiki ihre politische Solidarität mit den Positionen von Leo Trotzki in Fragen der Wirtschaftspolitik und der innerparteilichen Demokratie. Sie forderten die Abschaffung des „Fraktionsregimes“, die Konsolidierung der Planung und eine Stärkung der sowjetischen Industrie.[1] Um die Klassenfragen zu verstehen, die hinter diesem Konflikt standen, müssen zunächst die Ursprünge und das Wesen der sowjetischen Wirtschaft kurz erläutert werden.
Die Ursprünge der Sowjetwirtschaft
Trotzkis ökonomische Strategie im Kampf gegen den Stalinismus war eine Konkretisierung seines Konzepts der permanenten Revolution. Wie Genosse Christoph Vandreier im vorangegangenen Vortrag erläuterte, hatte Trotzki mit dieser Theorie früher und deutlicher als jeder andere vorausgesehen, dass die revolutionäre Umwälzung in Russland einen sozialistischen und internationalen Charakter annehmen würde. Trotzkis Analyse zeichnete sich durch ihren internationalen Ansatz aus: Er ging nicht von der Entwicklung der Wirtschaft in Russland aus, sondern von der Entstehung einer global integrierten Weltwirtschaft und der gesamten historischen Entwicklung der sozialen Revolution. Auf dieser Grundlage erkannte er, dass Länder mit einer verspäteten wirtschaftlichen Entwicklung wie Russland die Entwicklung Frankreichs oder Englands nicht einfach nachahmen würden. Vielmehr würden sie aufgrund ihrer Integration in das kapitalistische Weltsystem einen Prozess der „kombinierten und ungleichmäßigen Entwicklung“ durchlaufen.
Während Russland vor 1917 in vielerlei Hinsicht noch ein rückständiges und überwiegend agrarisches Land war, wurden das Kapital und die Technologie für die Industrialisierung Russlands von den führenden europäischen imperialistischen Ländern bereitgestellt. Infolgedessen verfügten die Fabriken in Russland über die modernste technologische Ausrüstung. Die Arbeiterklasse war zwar relativ klein, aber hoch konzentriert. Durch ihre Agrarexporte wurde auch die bäuerliche Wirtschaft vom Weltmarkt abhängig. Gleichzeitig war die russische Bourgeoisie vom internationalen Finanzkapital abhängig und stand dem Zarismus ohnmächtig gegenüber.
Trotzki erkannte, dass unter diesen Bedingungen die Arbeiterklasse die einzige Klasse war, die in der Lage war, die ungelösten Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution zu verwirklichen. Dies konnte sie jedoch nur durch sozialistische Maßnahmen erzielen. Während Lenin vor 1917 von einer Diktatur zweier Klassen, der Arbeiterklasse und der Bauernschaft, ausging, verstand Trotzki, dass die Bauernschaft als Klasse, die vom Privateigentum an ihren Produktionsmitteln abhängig ist, letztlich in Konflikt mit den sozialistischen Maßnahmen der Revolution geraten würde. Ein offener Konflikt zwischen der Arbeiterklasse und der Bauernschaft konnte nur durch die Ausdehnung der Revolution auf fortgeschrittenere Länder vermieden werden, die eine umfassende und schnelle Steigerung der Produktivkräfte ermöglichen würde. Er befürwortete daher eine Diktatur der Arbeiterklasse im Bündnis mit der armen Bauernschaft als Auftakt und integralen Bestandteil der sozialistischen Umgestaltung der Weltwirtschaft.
Diese Perspektive bestätigte sich in der gesamten Dynamik des revolutionären Prozesses, der sowohl in wirtschaftlicher als auch politischer Hinsicht sofort eine internationale Dimension erlangte. Die Errungenschaften der Oktoberrevolution hatten nicht nur weitreichende Auswirkungen auf den russischen Kapitalismus, sondern auch auf den Weltimperialismus. Was waren diese Errungenschaften auf sozioökonomischer Ebene?
- Erstens enteignete die Revolutionsregierung alle großen Banken und erließ Russlands Auslandsschulden. Zu dieser Zeit war Russland der größte Auslandsschuldner der Welt, so dass dies immense Auswirkungen auf das ausländische Kapital hatte.
- Zweitens enteignete und verstaatlichte die Sowjetmacht die großen Unternehmen, darunter auch solche im Besitz deutscher, französischer, belgischer, britischer oder japanischer Firmen.
- Drittens führten die Bolschewiki ein Außenhandelsmonopol ein. Das bedeutete, dass alle Exporte und Importe vom sowjetischen Staat überwacht und reguliert wurden.
- Viertens schufen die Bolschewiki, wenn auch in rudimentärer Form, die Grundlagen für eine sozialistische Planung.
Nach der Machtergreifung wurde die Sowjetrepublik fast sofort von imperialistischen Armeen überfallen, darunter aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, den USA und Japan. Die Rote Armee unter Leo Trotzki musste die Errungenschaften der Revolution im bewaffneten Kampf verteidigen und ausweiten. Doch obwohl in Italien, Deutschland und Ungarn revolutionäre Bewegungen ausbrachen, gelang es der Arbeiterklasse aufgrund des Verrats der Sozialdemokratie nicht, die Macht zu übernehmen. Daher war die Sowjetunion bei ihrer Gründung im Dezember 1922 auf große Teile des ehemaligen Russischen Reiches beschränkt.
Doch obwohl die Revolution die Herrschaft des Kapitals innerhalb der Grenzen der UdSSR beseitigt hatte, entzog sie die UdSSR nicht dem Einfluss der Dynamik der Weltwirtschaft und des Imperialismus. Angesichts der Isolierung der Revolution spiegelte sich diese Dynamik nun in den Klassenbeziehungen innerhalb der UdSSR wider, vor allem in der Arbeiterklasse und der Bauernschaft. Dieser grundlegende gesellschaftliche Konflikt zwischen dem Imperialismus und der sozialistischen Revolution oder, anders ausgedrückt, zwischen der Weltbourgeoisie und der Arbeiterklasse, fand seinen politischen Ausdruck in dem immer heftigeren Kampf der stalinistischen Bürokratie gegen die trotzkistische Bewegung.
Die Neue Ökonomische Politik
Im Frühjahr 1921 führte die bolschewistische Führung die so genannte Neue Ökonomische Politik (NÖP) ein, die erhebliche Zugeständnisse an das Privatkapital vorsah. Die immensen Opfer des Bürgerkriegs – der Verlust von Millionen von Arbeitern und Bauern durch Krieg, Hungersnöte und Krankheiten sowie die Zerstörung eines Großteils der Industrie- und Verkehrsinfrastruktur des Landes – hatten die Bevölkerung erschöpft. Die Bauernschaft stand am Rand einer Revolte. Die Rückschläge der internationalen Revolution bedeuteten, dass die Sowjetrepublik viel länger als erwartet isoliert bleiben würde. Unter diesen Bedingungen waren solche Zugeständnisse an das Privatkapital notwendig, um den sich abzeichnenden Zusammenbruch aufzuhalten und eine wirtschaftliche Erholung zu ermöglichen.
Was bedeutete die NÖP? Den Bauern war es erlaubt, ihre Erzeugnisse im privaten Handel zu verkaufen. In den Städten wurden Grundprinzipien der privaten Unternehmensführung wieder eingeführt.
Doch anders als vor 1917 behielt der sowjetische Staat die Kontrolle über den Außenhandel, d. h. die Bauern konnten weder Getreide und andere Produkte selbst exportieren, noch konnten die Industriemanager einfach billigere Industrieprodukte aus den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern importieren. Industrie und Verkehr blieben zu 90 Prozent verstaatlicht. Auch die finanziellen Hebel lagen in den Händen des Staates. So gab es einen ständigen Kampf zwischen einem im Wesentlichen kapitalistischen Sektor, der sich auf die Landwirtschaft konzentrierte, und einem sozialistischen Sektor, der sich auf die Industrie konzentrierte. Die sozialen Schichten, die am meisten vom „kapitalistischen Sektor“ profitierten, waren die privaten Händler, wohlhabende Bauern, die so genannten „roten Manager“ und Teile der staatlichen Bürokratie, die am privaten Handel beteiligt waren und diesen vermittelten. Die vom sozialistischen Sektor hauptsächlich abhängige und mit ihm verbundene soziale Kraft war die Arbeiterklasse.
Bis 1923 war klar, dass die NÖP einen wirtschaftlichen Zusammenbruch verhindert und einen Aufschwung ermöglicht hatte. Dieser Aufschwung verlief jedoch sehr ungleichmäßig. Die Industrie hatte viel stärker gelitten und sich weniger schnell erholt als die Landwirtschaft. Private Händler, d. h. reiche Bauern und Händler (die so genannten „Nepmänner“), beherrschten den Getreidehandel. So bestand die Gefahr, dass der wirtschaftliche Aufschwung nicht die Position der Arbeiterklasse, sondern die der pro-kapitalistischen Tendenzen in der sowjetischen Gesellschaft, vor allem auf dem Land, stärken würde. Mit anderen Worten, gerade die Erfolge des wirtschaftlichen Aufschwungs haben die Frage aufgeworfen: Auf dem Weg zum Kapitalismus oder zum Sozialismus?
Trotzki erkannte dieses Kernproblem bereits im April 1923. In seinem Bericht an den 12. Parteitag prägte er den Begriff der „Scherenkrise“. Der Zusammenbruch der Industrie und ihre Unfähigkeit, Industriegüter für den ländlichen Raum in hoher Qualität und zu niedrigen Preisen zu produzieren, führte zu einem zunehmenden Auseinanderklaffen der Preise für Industriegüter (die größtenteils von den Bauern gekauft wurden) und der Preise für landwirtschaftliche Güter (die größtenteils von den Arbeitern gekauft wurden) – die so genannte „Schere“. Mit anderen Worten: Das Angebot der Industrie konnte die Nachfrage nicht befriedigen.
Dadurch wurden nicht nur dem Verbrauch, sondern auch den Exporten und Importen Grenzen gesetzt. Dies wiederum behinderte verstärkt die Entwicklung der Industrie. In dieser Situation konnte selbst eine gute Ernte ernsthafte Gefahren bergen: Sie würde die Unfähigkeit der Städte verschärfen, die Nachfrage auf dem Land zu befriedigen und ihre Produkte zu verwerten. Dies wäre ein weiterer Anreiz für private Händler und reiche Bauern, sich direkt mit dem Weltkapital zu verbinden und Getreide außerhalb der Kontrolle des sowjetischen Staates zu exportieren, d. h. das Monopol des Außenhandels zu beseitigen. Sollten diese Schichten Erfolg haben, würden sie die gesellschaftliche Grundlage für die Restauration des Kapitalismus und die Beseitigung der Errungenschaften des Oktobers bilden. Was also war die Lösung?
In den Jahren 1923 bis 1927 erklärten Trotzki und die Opposition, dass dieses Missverhältnis zwischen Landwirtschaft und Industrie nur durch eine planmäßige Entwicklung der Industrie überwunden werden könne. Gleichzeitig sollte der Staat die Getreideexporte steigern und die Einnahmen zur Finanzierung der Industrialisierung verwenden. Vor allem aber erkannte Trotzki, dass jeder Fortschritt der sowjetischen Wirtschaft unweigerlich ihre Abhängigkeit vom kapitalistischen Weltmarkt verstärkte. Im Jahr 1925 schrieb Trotzki:
Gerade dank unseren Erfolgen sind wir auf den Weltmarkt getreten, d. h. wir sind in das Weltsystem der Arbeitsteilung eingetreten. Und dabei bleiben wir in kapitalistischer Umklammerung. Unter diesen Bedingungen wird das Tempo unserer wirtschaftlichen Entwicklung die Stärke unseres Widerstandes gegenüber dem ökonomischen Druck des Weltkapitalismus und dem militärisch-politischen des Weltimperialismus bestimmen.[2]
Die Frage war, wie die sowjetische Führung die Integration der Sowjetunion in die internationale Arbeitsteilung verwalten und regulieren würde, um den größtmöglichen Nutzen für die Arbeiterklasse daraus zu ziehen. Andernfalls würden die pro-kapitalistischen Kräfte innerhalb der sowjetischen Gesellschaft diesen Prozess unweigerlich zu ihrem Gunsten ausnutzen.
Trotzki bestand darauf, dass die fortschrittlichsten technologischen Ressourcen und, wann immer möglich, das Kapital des Weltmarkts genutzt werden sollten, um die Entwicklung der sowjetischen Industrie zu beschleunigen und die Qualität ihrer Produkte zu verbessern. Andernfalls würde die sowjetische Industrie unweigerlich weiter hinter die kapitalistische Weltindustrie zurückfallen. Um noch einmal Trotzki zu zitieren: „Die eigene Entwicklung allseitig beschleunigen können wir nur, indem wir sachgemäß die Mittel ausnutzen, die sich aus den Bedingungen der Weltarbeitsteilung ergeben.“[3]
Dieser internationale Ansatz der sowjetischen Wirtschaftspolitik, der auf einer marxistischen Bewertung der objektiven Dominanz der Weltwirtschaft beruhte, wurde mit dem autarken Programm des „Sozialismus in einem Land“ verworfen. Diese Theorie, die Stalin im Dezember 1924 verkündete, bedeutete eine Abkehr vom revolutionären Internationalismus und vom Marxismus – sowohl auf politischer als auch auf ökonomischer Ebene.
Die Geschichte und der Klasseninhalt der Konzeption vom „Sozialismus in einem Land“
Oberflächlich betrachtet mag die Vorstellung von „Sozialismus in einem Land“ absurd erscheinen. In der Tat hatte sie, wie Trotzki oft bemerkte, eine „metaphysische“, d. h. irrationale Komponente. Politisch und theoretisch hatte die Konzeption des Aufbaus des „Sozialismus in einem Land“ jedoch eine lange Tradition und reflektierte reale Klasseninteressen. Sie wurzelte in derselben national-reformistischen Sichtweise, die auch die Politik des revisionistischen Flügels der Sozialdemokratie geprägt hatte und schließlich in ihrem Verrat von 1914 gipfelte. Einer der wichtigsten Theoretiker des nationalistischen Reformismus, Georg von Vollmar, hatte in einem Aufsatz von 1878 das Konzept eines „isolierten sozialistischen Staates“ formuliert. Ferdinand Lassalle, einer der Mitbegründer der deutschen sozialistischen Bewegung, hatte noch früher eine nationalstaatliche Orientierung vertreten.
Lassalle betrachtete den Staat nicht als Instrument der Klassenherrschaft, sondern als eine klassenübergreifende Instanz, die den sozialen Fortschritt sicherstellen sollte. Er appellierte an die preußische Regierung, der Arbeiterklasse Reformen zu gewähren und die industrielle Entwicklung Deutschlands zu beschleunigen. Lassalle war nicht nur von der Möglichkeit, sondern auch der Notwendigkeit des Sozialismus im nationalen Rahmen überzeugt. Er verstand den Sozialismus als das Ergebnis des Kampfs nicht der Arbeiterklasse, sondern der „Nation“. 1864 schrieb er: „Der Nation gehört der Weltmarkt, welche sich zuerst zur Einführung dieser sozialen Umwandlung [der Einführung des Sozialismus] in großartigem Maßstabe entschließt!“[4] Lassalle und von Vollmar formulierten damit eine Art „bürgerlichen Staatssozialismus“, der eine effizientere und schnellere Entwicklung des bürgerlichen Deutschlands und seine Dominanz im Weltmaßstab ermöglichen sollte.
Wie sie gingen auch Stalin und Bucharin nicht von der Weltwirtschaft und dem internationalen Klassenkampf aus, sondern von einem engen nationalen Rahmen. Bucharin verkündete, dass die durch die NÖP freigesetzten Marktkräfte die sozialistische Entwicklung nicht bedrohen, sondern vielmehr einen friedlichen Übergang zum Sozialismus fördern würden, und zwar allein innerhalb Russlands, im Tempo einer „Schildkröte“. Bucharin behauptete, dass die bloße Existenz des Sowjetstaates eine Entwicklung zum Sozialismus in einem einzigen Land gewährleiste. Wie er es ausdrückte, „ist der allgemeine Rahmen der Entwicklung … in unserem Land von vornherein … durch die proletarische Diktatur (gegeben)“.[5]
Solche Vorstellungen erklärten den Klassenkampf innerhalb und außerhalb der UdSSR faktisch für nicht existent oder zumindest für unbedeutend für das Schicksal der Revolution. Es war ein Rezept für die Niederwerfung vor den erbittertsten Feinden der Arbeiterklasse und der Revolution und für Selbstzufriedenheit angesichts der drohenden militärischen Intervention des Imperialismus sowie dessen immer noch überwältigenden wirtschaftlichen Vorherrschaft.
Der „Sozialismus in einem Land“ war aus Klassensicht Ausdruck der Interessen der durch die NEP gestärkten pro-kapitalistischen Gesellschaftsschichten. Zu ihnen gehörten nicht nur wohlhabende Bauern und Händler, sondern auch eine große Zahl ehemaliger Staatsbeamter aus der Zarenzeit, die in den Wirtschafts- und Staatsapparat reintegriert worden waren und einen wesentlichen Teil der Bürokratie bildeten. Soweit sie den Sowjetstaat unterstützten, taten sie dies, weil sie ihn als Fortsetzung des alten russischen Staates betrachteten. Mal offen, mal stillschweigend brachten sie die Hoffnung zum Ausdruck, dass das sozialistische Programm der Oktoberrevolution zugunsten dessen, was sie als die „eigentliche Frage“ betrachteten, beiseite geschoben würde: eine große nationale Wiedergeburt Russlands.
Diese Stimmung wurde von Nikolai Ustrjalow, dem Führer der Tendenz der so genannten Nationalbolschewiki, unverblümt zum Ausdruck gebracht. Die Opposition stellte die Verbindung zwischen dem „Nationalbolschewismus“ – im Wesentlichen eine konterrevolutionäre Tendenz unter sowjetischen Intellektuellen und Bürokraten – und dem wirtschaftlichen Kurs der stalinistischen Führung her. Sie warnte: „Der Weg Ustrjalows heißt: Entwicklung der Produktivkräfte auf kapitalistischer Grundlage durch allmähliches Aufzehren der Oktobererrungenschaften.“[6]
Niemand brachte diese restaurative Ausrichtung deutlicher zum Ausdruck als Bucharin, der Führer des rechten Parteiflügels, der die wohlhabenden Bauern offen aufrief: „Bereichert euch!“ Stalin repräsentierte die von der Opposition als „zentristisch“ bezeichnete Fraktion innerhalb des Politbüros: Sie schwankte zwischen der Linken und der Rechten und vertrat die Interessen der sowjetischen Bürokratie am direktesten.
Als parasitärer Organismus am Körper der sowjetischen Gesellschaft spiegelte die Bürokratie den Druck des Weltimperialismus auf den Arbeiterstaat wider. Ohne eigenständige Wurzeln und ohne eine notwendige Funktion im Produktionsprozess befand sich die Bürokratie in einem ständigen Spannungsfeld zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Kräften. Sie reagierte pragmatisch, mit einem immer fieberhafteren Zickzackkurs, auf die Krisen, die meist von ihr selbst verursacht worden waren. Der einzige konsequente Aspekt der Linie der Bürokratie war ihr immer entschlossenerer und rücksichtsloserer Kampf gegen den revolutionären Flügel der Partei unter Leo Trotzki. Bis 1928 führte Stalins Fraktion diesen Kampf in einem engen Bündnis mit dem rechten Flügel um Bucharin. Aus diesem Grund hat Trotzki für die Zeit von 1924 bis 1927 den Begriff des „rechtszentristischen Abgleitens“ verwendet. Wie die Genossen Chris Marsden und Peter Symonds in den nächsten Teilen dieses Vortrags erläutern werden, ergänzte die stalinistische Führung in diesen Jahren ihre Anpassung an die bürgerlichen Schichten innerhalb der sowjetischen Gesellschaft durch eine Orientierung an der reformistischen Gewerkschaftsbürokratie in England und der nationalen Bourgeoisie in China.
Das Ausmaß des innerparteilichen Kampfes
Zum Abschluss dieses Teils des Vortrags möchte ich betonen, dass Trotzki schon früh verstanden hat, dass in diesem Kampf nicht nur taktische Fragen oder einzelne politische Maßnahmen auf dem Spiel stehen, sondern die Kontinuität des Marxismus und das Schicksal der Weltrevolution. Dieses Klassen- und Geschichtsverständnis prägte alle seine Überlegungen und sein Verhalten im innerparteilichen Kampf.
Während die meisten Historiker dazu neigen, den Kampf zwischen Trotzki und Stalin als eine Auseinandersetzung zwischen zwei Individuen zu betrachten, war sich Trotzki sehr bewusst, dass er, so bösartig die persönlichen Angriffe auf ihn auch waren, nicht nur sich selbst, sondern mächtige Klassenkräfte auf nationaler und vor allem internationaler Ebene vertrat. Er und andere Oppositionsführer waren maßgeblich am Aufbau des sowjetischen Staates, seiner wirtschaftlichen, politischen und akademischen Institutionen sowie seiner Streitkräfte beteiligt. Mit dem Angriff auf die Opposition wies die stalinistische Führung die politischen Positionen, das Programm und letztlich auch das Personal zurück, die die Grundlage für den Erfolg der Revolution von 1917 gewesen waren. Deshalb war es unerlässlich, nicht nur innerhalb der bolschewistischen Partei, sondern in der gesamten Kommunistischen Internationale einen Kader zu erhalten und auszubilden, der sich auf den Kampf um größtmögliche politische Klarheit über die grundlegenden strategischen Fragen der Epoche stützt.
Es muss betont werden, dass die Opposition in den 1920er Jahren nicht nur politische Vorschläge machte. Trotzki, Ivar Smilga, Georgi Piatakow und Hunderte anderer Oppositioneller waren ein integraler Bestandteil des sowjetischen Wirtschaftsapparats. Sie erfüllten oft sehr einflussreiche Funktionen und genossen in Teilen des Partei- und Staatsapparats große Unterstützung.
Dieser kurze Videoclip zeigt Smilga und Trotzki bei der Einweihung eines Elektrizitätswerks, was damals ein großes Ereignis war. Noch im Oktober 1925 bezeichnete die New York Times Trotzki, der damals nur relativ unbedeutende Funktionen im Wirtschaftsapparat innehatte, als „Führer der russischen Industriearmee“.
Wenn wir also von einem Kampf sprechen, dürfen die Genossen ihn nicht als eine intellektuelle Angelegenheit betrachten. Dies war nicht nur eine Schlacht auf dem Papier. Trotzki und seine Anhänger wurden aufgrund einer dramatischen Verschiebung des weltweiten Gleichgewichts der Klassenkräfte in eine Minderheitenposition gedrängt. Der Ausgang dieses Kampfes war jedoch offen. Jeden Tag, bei praktisch jedem Parteitreffen, bei jeder Sitzung einer führenden oder mittleren staatlichen Institution, kämpften die Führer und Anhänger der Opposition für ihre Politik und konnten dabei oft den Ton angeben.
Trotzki gab sich nie der Illusion hin, dass die Widersprüche der sowjetischen Wirtschaft und der Oktoberrevolution allein durch wirtschaftliche Maßnahmen und eine Änderung der staatlichen Politik gelöst werden könnten. So wie die Revolution das Ergebnis eines globalen Prozesses war, sollte auch ihr Schicksal auf globaler Ebene entschieden werden. Zwischen 1924 und 1927 waren die beiden wichtigsten Schlachtfelder der Weltrevolution Großbritannien und China.
„Die Erklärung der 46“, veröffentlicht auf: https://www.wsws.org/de/articles/2023/10/22/yyac-o22.html
Leo Trotzki, Sozialismus oder Kapitalismus? Online hier verfügbar: https://sozialistischeklassiker2punkt0.de/sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1925/leo-trotzki-kapitalismus-oder-sozialismus.html
Ebd. https://sozialistischeklassiker2punkt0.de/sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1925/leo-trotzki-kapitalismus-oder-sozialismus/krisen-und-andere-gefahren-des-weltmarktes.html
Ferdinand Lassalle, Herr Bastiat-Schulze Delitzsch, der ökonomische Julian, oder: Kapital und Arbeit, Berlin: C. Ihring Nachf., 1874, S. 223.
Zitiert nach: „Entwurf einer Plattform der Vereinigten Opposition (1927)“, in: Leo Trotzki, Schriften. Bd. 3.2: Linke Opposition und IV. Internationale, 1927–1928, hrsg. von Helmut Dahmer et al, Rasch und Röhring 1997, S. 918.
Ebd., S. 901.