Der Künstler Costantino Ciervo wurde 1961 in Neapel geboren und lebt und arbeitet heute in Deutschland. Seine Arbeiten sind multimedial und thematisieren drängende soziale Fragen. Im Jahr 2023 vollendete Ciervo einen Dokumentarfilm mit dem Titel „Mimmo Lucano - used to pulling - not pushing back', der sich mit dem Schicksal von Wanderarbeitern in Süditalien befasst und auf verschiedenen internationalen Festivals gezeigt wurde.
Zu seinen jüngsten Arbeiten gehören die Multimedia-Projekte „mare nostrum“ und „Sew in the Sea“, die Migranten gewidmet sind, die bei dem Versuch, Europa über das Mittelmeer zu erreichen, ums Leben kamen. Die Ausstellung wurde Anfang des Jahres im Museum Ostwall in Dortmund gezeigt.
Ein wiederkehrendes Thema in Ciervos Werk ist die Lage der Palästinenser unter israelischer Besatzung. Derzeit arbeitet er an einem Projekt mit dem Titel „Comune“, das im Herbst im FLUXUS+ Museum in Potsdam ausgestellt wird. Das Projekt verbindet Kunst, Technologie und soziales Engagement und soll angesichts des mörderischen israelischen Kriegs gegen die Palästinenser zum Nachdenken und zur Debatte über die Situation im Nahen Osten anregen.
Dieses Interview wurde in Berlin geführt.
***
Steinberg: Können Sie uns etwas über Ihr aktuelles Kunstprojekt erzählen?
Ciervo: Mein neues Projekt konzentriert sich auf den Konflikt im Nahen Osten, wo schreckliche Dinge geschehen. Ein Volk wird ausgelöscht. Laut offiziellen Angaben gibt es 60.000 Tote, die Hälfte davon Frauen und Kinder. Andere Quellen deuten auf 100.000 Tote hin, meist ermordete Zivilisten. Für mich ist das Anlass, Stellung zu beziehen. Solche Tatsachen bewegen mich sehr, weil ich seit Jahren Kunstwerke mit sozialer Relevanz schaffe. Meine Arbeit ist politisch: Meine Gemälde und Installationen gruppieren sich um einzelne Themen.
Für die in Potsdam geplante Ausstellung habe ich begonnen, eine Serie mittelgroßer Porträts zu malen und zu montieren. Ich arbeite dafür mit einem Konzept, das auf Zwillingen basiert. Mir ist klar geworden, dass moderne Konflikte oft die Form von Bruderkriegen annehmen – Ukraine, Sudan, Palästina. Es sind Konflikte zwischen Völkern, die viel mehr Gemeinsamkeiten haben als Dinge, die sie voneinander trennen.
Das wirft die Frage auf: Warum gibt es diese Kriege? Meiner Ansicht nach sind die treibenden Kräfte, die letztlich dahinterstehen, wirtschaftlicher Natur. Der Konflikt in Israel hat eine lange Geschichte. Um die „Zwillinge' darzustellen, habe ich echte Menschen gefunden, die für verschiedenste Palästinenser stehen: jung, alt, Männer und Frauen. Als Vorlage diente mir ein Foto aus dem Internet, das einen typischen Palästinenser zeigt.
Die Kleidung spielt eine wichtige Rolle für die Identität: das Kufiya-Tuch, der Schleier für Frauen, typisch in der arabischen Region. Ich male diese Figuren als Porträts und verwende dann künstliche Intelligenz, um sie in einen fast identischen „Zwilling' zu verwandeln, allerdings mit einer entscheidenden Veränderung: Sie tragen nun jüdisch-israelische religiöse Kleidung und Symbole. Die Gesichter sind dieselben, aber jetzt sieht man den Davidstern und traditionelle jüdische Kleidungsstücke.
Der politische Zusammenhang wird durch das hergestellt, was hinter den Porträts zu sehen ist – eine Karte Palästinas im Wandel der Zeit.
Das erste Porträt habe ich vor einer Landkarte Palästinas aus dem Jahr 1917 abgebildet, als die Region Teil des Osmanischen Reiches war und dort Araber, Juden, Christen und Drusen in relativer Harmonie lebten. Die folgenden Porträts zeigen die Etappen der historischen Entwicklung und wie sich die Karte im Laufe der Zeit verändert. Ein entscheidender Wendepunkt ist das Jahr 1948, als Israel den so genannten Unabhängigkeitskrieg führte. Palästina wurde besetzt und Sie können sehen, wie die palästinensische Bevölkerung praktisch über Nacht um die Hälfte verkleinert wurde. Die verschiedenen Porträts zeigen, wie das von Palästinensern bewohnte Gebiet nach und nach schrumpfte und nur noch der Gazastreifen und das Westjordanland übrig blieben – zwei Regionen, die durch die israelische Besatzung vollständig voneinander getrennt sind. Das ist eine politische Aussage, die die Frage aufwirft: Wie ist es möglich, dass ein Volk, das seit 2000 Jahren dort lebt, in der Region fast ausgelöscht wird?
Wie schon gesagt, hat das im Wesentlichen wirtschaftliche und politische Ursachen. Um dies zu verdeutlichen, stellen zwei der Gemälde die Rolle dar, die ausländische Mächte gespielt haben. Auf dem einem sehen wir zwei Hähne, die gegeneinander kämpfen. Die Hähne repräsentieren zwei große Machtzentren und stehen auf einem Panzer, der aus Dollarscheinen gemacht ist.
Auf dem zweiten Bild ist ein amerikanischer Soldat zu sehen, der von Einzelbildern umgeben ist, auf denen Aspekte des Kriegs in Gaza dargestellt sind: der Einsatz von Hightech-Drohnen gegen eine weitgehend wehrlose Bevölkerung und das Elend palästinensischer Familien, die in die Schusslinie geraten. Auf einer der Tafeln ist der steil ansteigende Kurs des Aktienmarktes abgebildet. All diese Elemente hängen miteinander zusammen.
Es ist wichtig, Trumps und Netanjahus Pläne zur Schaffung eines „Groß-Israel“ durch Vertreibung und Vernichtung der Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland bei gleichzeitiger Expansion in den Südlibanon in den richtigen geopolitischen Kontext zu stellen. Wie bei allen großen Konflikten geht es auch hier um Geld und Macht.
Es ist allgemein bekannt, dass die Vereinigten Staaten eine enorme Staatsverschuldung von über 35 Billionen Dollar angehäuft haben und dafür eine enorme Menge Zinsen zahlen müssen. Ein Großteil dieser Schulden existiert in Form von Staatsanleihen, die von Ländern wie China, Saudi-Arabien und Russland gehalten werden.
Das Hauptproblem für die USA ist China, ihr mächtigster wirtschaftlicher Rivale. In den letzten Jahren haben die USA Europa weniger Aufmerksamkeit geschenkt, nachdem sie ihr Ziel erreicht hatten, einen Konflikt mit Russland zu entfachen. Die amerikanische Außenpolitik fokussiert sich nun auf China und die BRICS-Staaten. Um die wirtschaftliche Abhängigkeit von ausländischen Gläubigern – in erster Linie China – zu verringern, versuchen die USA, das Projekt der so genannten „Cotton Road“ („Baumwollstraße“ in Konkurrenz zur „Neuen Seidenstraße“) zu stärken, welche von Indien über den Nahen Osten und Italien bis nach Nordeuropa führen soll.
Bei den Plänen der USA spielt ein erweitertes Israel als ihr wichtigster militärischer Vorposten eine Schlüsselrolle. Und die Palästinenser stehen dabei im Weg. Deshalb verfolgt das Regime in Tel Aviv seit Jahren sein Programm einer „Endlösung', also des Völkermords und der Deportation, und tut dies auch jetzt.
Steinberg: Was denken Sie zu der Haltung von westlichen Mächte wie Deutschland und Italien, die weiterhin mit Israel Handel treiben und dorthin Waffen liefern? Gleichzeitig gibt es ja eine Welle von Protesten junger Menschen gegen den Völkermord in Gaza.
Ciervo: Deutschland ist das mächtigste Land in Europa und spielt eine herausragende Rolle in diesem Konflikt. Es ist entschlossen, seine kapitalistischen Interessen im Nahen Osten zu verteidigen, und als die Nation, die für die Shoah verantwortlich ist, bietet es dem kriminellen Regime in Tel Aviv entscheidende politische Unterstützung.
In Italien wird die Regierung von den Postfaschisten der Fratelli d'Italia angeführt, die entschlossen sind, an der Macht zu bleiben. Um das zu schaffen, müssen sie sich den amerikanischen Plänen anpassen und gleichzeitig die Beziehungen zu Europa aufrechterhalten. Das Ergebnis ist eine Kombination aus neoliberaler Politik und Unterdrückung. Italien braucht billige Arbeitskräfte – Arbeiter, die unter unmenschlichen Bedingungen ausgebeutet werden, in Baracken leben und die härtesten Arbeiten verrichten.
Vor dem Hintergrund dieser politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen sitzen die Flüchtlinge in Italien in der Falle. Ich habe dieses Thema in meinem Film „Mimmo Lucano-used to pulling-not pushing back“ aufgegriffen.
Ich glaube an eine Welt ohne Grenzen, aber ich bin kein Utopist. Grenzen lassen sich nicht durch bloßes Wunschdenken beseitigen, doch in die Richtung muss es gehen. Ich habe mich auf die Situation von Migranten konzentriert, weil darin ein revolutionäres Potenzial liegt. Sie werden durch Krieg und Armut zur Flucht aus ihren Heimatländern getrieben und dann in den Ländern, in denen sie ankommen, ausgebeutet – in vielerlei Hinsicht stellen sie die am meisten unterdrückte Schicht der Arbeiterklasse dar.
Dieses Thema des Exodus, das bis auf das Alte Testament zurückgeht, zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Menschheit.
Steinberg: Heute ist neu, dass dank der Entwicklung der globalen Produktion und des Internets neue Formen der Information und Zusammenarbeit entstanden sind.
Ciervo: Genau. Tatsache ist, dass der Kapitalismus aus seiner eigenen wirtschaftlichen Logik heraus die Grundlagen des Nationalstaats untergraben hat. Durch diese Entwicklungen können sich Teile der Arbeiterklasse in weniger entwickelten Ländern – Afrika, Balkan, Südamerika – zusammenschließen und sie können verstehen, dass sie vor denselben Problemen stehen wie die armen Arbeiter in den reichen Ländern. Das ist der Schlüssel zur Lösung des Problems: die Vereinigung der Arbeiter.
Steinberg: Die heutige Kunstwelt steckt in einer Krise – viele Künstler scheinen in formalistischen oder auf sich selbst bezogenen Formen gefangen zu sein, denen es an bedeutungsvollem sozialen Inhalt mangelt. Wie verstehen Sie die Aufgabe der Kunst? Welche Rolle kann sie spielen?
Ciervo: Danke für die Frage – das ist ein sehr wichtiges Thema. Ich sehe die meisten von uns Künstlern sehr kritisch. Für viele von uns besteht das einzige Ziel darin, Geld zu verdienen, einen Markt zu finden, Anerkennung zu bekommen. Wir würden alles tun, um bekannt zu werden, und oft mangelt es uns im Privatleben und in unserer Kunst an Ehrlichkeit.
Dieses Problem ließe sich mit der Einführung eines weltweiten Grundeinkommens sofort lösen. Wirtschaftliche Unabhängigkeit würde uns aus der Situation befreien, in der wir miteinander konkurrieren und ständig versuchen müssen, uns abzuheben, nur um unsere Werke an private Sammler zu verkaufen. Diese Situation könnte dann auch nicht mehr als Ausrede herhalten.
Ich glaube nicht an Künstler als eine Kategorie. Ich glaube an die Macht der Kunst. Die beste Kunst ist wie ein gutes Buch: Sie ermöglicht es einem, die Welt zu erkunden und über sie nachzudenken. Mit Büchern können Veränderungen bewirkt werden. Aber es bleibt zu viel Kunst in privaten Villen verschlossen, weit weg von der Öffentlichkeit.
Die wirklich wichtigen Werke sind diejenigen, die für den öffentlichen Raum, für Museen und Plätze geschaffen wurden. Es sind Kunstwerke, die dem Betrachter helfen, sein Verständnis für die Welt – und über sich selbst – zu vertiefen.
Wir Künstler verarbeiten unsere Neurosen und bringen sie wieder hervor. Aber wir müssen das „hervorgebrachte' Produkt, das sich KUNST nennt (über dessen wirklichen Wert die Geschichte entscheidet), von demjenigen trennen, der es hervorbringt – dem Künstler als Person. Einigen von uns gelingt es, ihre Neurosen im Privatleben zu kontrollieren und mehr oder weniger sozial verantwortlich zu leben. Gleichzeitig sind wir in dieser Gesellschaft alle dazu verdammt, für unsere Sichtbarkeit zu kämpfen, um zu überleben. Einige, oft die Erfolgreichsten, schaffen es nicht, ihr Ego zu kontrollieren und verhalten sich wie Raubtierkapitalisten – was oft mit einem Glauben einhergeht, der alles noch verschlimmert, nämlich allen anderen moralisch überlegen zu sein.
Die beste Kunst kann revolutionär sein, denn im Gegensatz zu Politik und Philosophie bedient sie sich einer symbolischen, nicht-argumentativen, universellen Sprache. Ihr „Wahrheitsgehalt' ergibt sich besonders aus der ihr eigenen nicht-diskursiven und universellen Kommunikationsform.
Letztlich kommt es nicht so sehr auf den Künstler an, sondern vielmehr auf das, was er hinterlässt. Die Geschichte entscheidet dann darüber.