Türkei: Hunderttausende Beschäftigte des öffentlichen Dienstes streiken gegen miserables Lohnangebot der Regierung

Während die Verhandlungen über den Tarifvertrag des türkischen öffentlichen Dienstes für 2025–2026 laufen, haben hunderttausende Arbeiter, deren Gewerkschaften Mitglied im Dachverbandes Türk-İş sind, am Donnerstag die Arbeit für einen Tag niedergelegt. Es geht um Löhne und Zusatzleistungen für mehr als 600.000 Beschäftigte des türkischen öffentlichen Dienstes.

Der eintägige Streik war die erste Arbeitsniederlegung dieser Größenordnung seit dem Generalstreik vom 3. Januar 1991. Betroffen waren zahlreiche staatliche Einrichtungen und Organisationen, darunter die Eisenbahnen, Autobahnen, Bergwerke, Kraftwerke, Ministerien, Universitäten und Krankenhäuser. Der Vorsitzende von Türk-İş, Ergün Atalay, machte deutlich, dass die Bürokratie dies nicht wolle, aber – sofern keine Einigung erzielt werde – dennoch gezwungen sei, am 26. August offiziell in den Streik zu treten.

Arbeiter der Schiffswerften von Istanbul [Photo: X / Turk Harb-is Istanbul Sube]

Im Vorfeld des Streiktags fand am Montag eine „Stay-in“-Protestaktion statt. Die dem Gewerkschaftsbund Hak-İş angeschlossenen Gewerkschaften beteiligten sich nicht an der Arbeitsniederlegung. Laut dem Vorsitzenden von Hak-İş, Mahmut Arslan, gehören etwa 400.000 der vom Tarifvertrag betroffenen Arbeiter einer Mitgliedsgewerkschaft des Hak-İş an.

Berichten zufolge erreichte die Streikbeteiligung vor allem bei Eisenbahnen in Städten wie Istanbul, Kayseri, Sakarya und Izmir 100 Prozent. Weiter wurde berichtet, dass die Produktion in der Waggonfabrik von Turkish Rail Vehicle Industry Inc. (TÜRASAŞ) in Adapazarı zum Erliegen gekommen sei. In Istanbul kam es aufgrund des Streiks der Lokführer bei Marmaray den ganzen Tag zu Unterbrechungen des Zugverkehrs. Auch auf der Strecke von Pendik- Ataköy fuhren keine Züge. Etwa 600.000 Menschen sind täglich auf die Marmaray-Züge angewiesen.

Marmaray untersteht dem Verkehrs- und Infrastrukturministerium. Die Direktion versuchte, die Arbeitsniederlegung als unbedeutend oder sogar als nicht vorhanden darzustellen, und behauptete in einer Stellungnahme, die Betriebsstörungen gingen auf „allgemeine Wartungsarbeiten“ zurück.

Die Turkish Coal Mining Corporation (TTK) veröffentlichte kurz vor dem geplanten Ausstand eine vom stellvertretenden Direktor der Gesellschaft unterzeichnete Bekanntmachung, dass es sich bei der Aktion um einen „illegalen Streik“ handele. Den Beschäftigten wurden Strafen angedroht.

In vielen Provinzen, u.a. in Istanbul, Izmir, Kayseri und Kocaeli, protestierten die Beschäftigten der staatlichen Krankenhäuser gegen das Lohnangebot der Regierung.

Eine Pflegekraft aus Kayseri erklärte gegenüber der Zeitung Evrensel: „Die Regierung bietet eine sehr niedrige Lohnerhöhung an. Die Preise auf dem Markt und für viele andere Güter steigen jeden Tag weiter. Während der Pandemie konnte ich meine Kinder nicht umarmen und musste Tag und Nacht arbeiten. Heute müssen wir handeln, damit dieses mickrige Lohnangebot zurückgenommen wird. Wir werden weiter für unsere Rechte kämpfen, bis sie uns gewährt werden.“

Auch Universitätspersonal schloss sich der Arbeitsniederlegung an, und an der Universität Istanbul fand ein Protestmarsch statt. Die Arbeiter der Rüstungsindustrie konnten aufgrund eines Streikverbots in dieser Branche nicht an der Aktion teilnehmen.

Die Gewerkschaft der türkischen Schwerindustrie und des öffentlichen Dienstleistungssektors (TÜHIS), welche die staatlichen Beschäftigten offiziell vertritt, schlug eine Erhöhung von 17 Prozent für die ersten sechs Monate und zehn Prozent für die nächsten sechs Monate vor. Nach dem Streik erhöhte die TÜHIS ihren Vorschlag in der dritten Verhandlungsrunde am Freitag, den 18. Juli, auf 24 Prozent für die ersten sechs Monate. Für die folgenden sechs Monate wurde eine Erhöhung in Höhe der Inflationsrate vorgeschlagen.

Die Arbeiter fordern einen täglichen Mindestlohn von 1.800 Lira sowie eine 50-prozentige Lohnerhöhung für die ersten sechs Monate und eine weitere 25-prozentige Erhöhung für die nächsten sechs Monate. Bei den Lohnerhöhungen, welche die Regierung anbietet, würden die Arbeiter angesichts der steigenden Lebenshaltungskosten real weiter verarmen.

Das türkische Statistikamt (TurkStat) gab die jüngste offizielle jährliche Inflationsrate mit 35 Prozent an. Die unabhängige Organisation ENAG errechnete jedoch eine Rate von 68 Prozent. Zuvor lag die von ENAG berechnete reale jährliche Inflationsrate lange Zeit bei über 100 Prozent.

Der Durchschnittslohn im öffentlichen Dienst liegt derzeit bei etwa 37.500 Lira, und mit einer 24-prozentigen Erhöhung würde er auf 46.500 Lira ansteigen. Dies ist allerdings kaum die Hälfte der durchschnittlichen Armutsgrenze für eine vierköpfige Familie. Laut einer Studie von Türk-İş lag die Gesamtsumme der notwendigen monatlichen Ausgaben (Armutsgrenze) für eine vierköpfige Familie für Nahrungsmittel, Kleidung, Unterkunft (Miete, Strom, Wasser, Treibstoff), Transportmittel, Bildung, Gesundheit und ähnliche Bedürfnisse im Juni 2025 bei 85.065 Lira.

Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst wie andere Teile der türkischen Arbeiterklasse sind mit Klassenkriegsmaßnahmen der Regierung und der Unternehmen konfrontiert, die Löhne senken und Sozialleistungen abschaffen wollen. Dies ist die Realität in allen Kommunen, sowohl in denjenigen unter der Kontrolle von Präsident Recep Tayyip Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) als auch in denjenigen, die von der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) kontrolliert werden.

Die Regierung nutzt die Inflationsbekämpfung und das Haushaltsdefizit als Vorwand, um Lohnsenkungen zu rechtfertigen. Sie erklärt den Arbeitern, dass Lohnerhöhungen ohne Verbesserungen in diesen Bereichen sinnlos wären.

Laut einem Bericht der Türkiye Gazetesi  fragten einige AKP-Abgeordnete bei Finanzminister Mehmet Şimşek nach, ob eine Erhöhung des Mindestlohns alle sechs Monate möglich sei, wie es bei den Beamtengehältern der Fall ist.

Şimşek antwortete darauf: „Jede Erhöhung, die kein Gleichgewicht zwischen dem Haushaltsdefizit, dem Leistungsbilanzdefizit und dem Kampf gegen Inflation herstellt, würde nur vorübergehend sein. Wir geben grundsätzlicheren Lösungen den Vorrang. Andernfalls könnten wir diese Erhöhungen durchführen, aber wenn wir nicht die zugrunde liegenden Probleme lösen, würden sie schnell nichtig werden. Sobald wir die Inflation unter Kontrolle bringen, werden wir das System in Ordnung bringen.“

Şimşek erklärte nicht, warum dasselbe nicht auch für Abgeordnete und Minister gilt. Durch automatische Gehaltserhöhungen wurden die Abgeordnetengehälter im Juli auf 229.000 Lira, diejenigen von Ministern auf 235.000 Lira angehoben. Erdoğans Gehalt stieg auf 252.000 Lira. Das bedeutet, dass Şimşeks Gehalt 10,6 Mal höher liegt als der Mindestlohn, dasjenige von Erdoğan 11,4 Mal höher.

Die brutalen Austeritätsmaßnahmen und die verschärfte Ausbeutung, die Millionen von Arbeitern und Rentnern im öffentlichen Dienst und der Privatwirtschaft auferlegt werden, dienen der Bereicherung der kapitalistischen Oligarchie, unterstützt durch Steueramnestien und Gratifikationen, und zur Finanzierung des Militarismus.

Für das Jahr 2025 wird die Türkei, deren Verteidigungsausgaben zwei Prozent des BIP oder 800 Milliarden Lira ausmachen, weitere 1,5 Billionen Lira aus ihrem Etat umverteilen, um ihre Ausgaben, entsprechend ihrer Nato-Verpflichtung, auf fünf Prozent des BIP anzuheben. Dies würde weitere Kürzungen der Sozialausgaben und weitere Steuererhöhungen bedeuten, die hauptsächlich von der arbeitenden Bevölkerung erhoben werden.

Der stellvertretende Vorsitzende von Türk-İş und Vorsitzender der Gewerkschaft Yol-İş, Ramazan Ağar, erklärte am Freitag zu dem dritten Angebot: „Es gab Fortschritte, und die Verhandlungen über einen Lohn, der der Würde der Beschäftigten im öffentlichen Dienst entspricht, gehen weiter. Unsere Verhandlungen zu Fragen in diesem Bereich werden am nächsten Montag fortgesetzt (...) Wir hoffen, dass die Verhandlungen fortgesetzt und nächste Woche abgeschlossen werden können.“ Das deutet auf einen Ausverkaufsvertrag hin.

Nachdem die Gewerkschaften jedoch jahrzehntelang den Klassenkampf unterdrückt haben, und angesichts der verschärften Austeritätsoffensive, wächst unter Arbeitern die Überzeugung, dass die Lage unerträglich ist.

Ein Bahnarbeiter aus Kayseri schilderte gegenüber der Zeitung Evrensel  die radikale Stimmung unter Arbeiter: „Dieser Vorsitzende [Turk-İş-Vorsitzender Atalay] wird uns wieder ausverkaufen. Sie spielen immer das gleiche Szenario durch. Aber diesmal werden wir nichts ohne die Erlaubnis von uns, den Bahnarbeitern unterzeichnen. Diesmal sind wir wachsam. Worauf auch immer sie warten, angesichts der angespannten Lage der Gesellschaft werden wir zum Generalstreik aufrufen und die Erdoğan-Regierung zu Fall bringen.“

Der Kampf der Beschäftigten im öffentlichen Dienst ist Teil des zunehmenden Kampfs der Arbeiterklasse in der Türkei und der ganzen Welt für angemessene Löhne und soziale Bedingungen eskalierender kapitalistischer Angriffe. Dieser Kampf richtet sich nicht nur gegen die kapitalistischen Regierungen und Unternehmen, sondern auch gegen die Gewerkschaftsbürokratien, die mit ihnen zusammenarbeiten.

Um ihren Kampf voranzubringen, müssen die Arbeiter vom Gewerkschaftsapparat unabhängige Aktionskomitees in allen Betrieben bilden und eine Strategie für eine internationale Gegenoffensive gegen den Kapitalismus annehmen. Angesichts der Versuche der Gewerkschaftsbürokratie, wirksame Streiks zu verhindern, die Kämpfe zu spalten und zu unterdrücken und Ausverkaufsverträge durchzusetzen, können nur solche Komitees die kollektive Stärke der Arbeiter vereinen und mobilisieren.

Im Gegensatz zu den nationalistischen Gewerkschaftsbürokratien werden diese Komitees die Beschäftigten im öffentlichen Dienst in der Türkei und der ganzen Welt sowie Arbeiter in anderen Branchen aufrufen und einen internationalen Kampf vorschlagen. Die Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees (IWA-RFC) liefert das notwendige organisatorische Instrument für die Bewegung, die sich in der Arbeiterklasse jetzt entwickelt. Wir rufen alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst und andere Arbeiter, die den Kampf aufnehmen, dazu auf, sich mit uns in Verbindung zu setzen und ein solches Komitee zu gründen.

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