Am Samstag fand in Berlin die größte Demonstration gegen den Genozid am palästinensischen Volk statt, die Deutschland bisher gesehen hat. Sie startete nachmittags vor dem Roten Rathaus mit einer Auftaktkundgebung vor rund 20.000 Menschen, zog über die Straße des 17. Juni und endete mit ihrer Haupt- und Abschlusskundgebung am Großen Stern in den Abendstunden, wo sie auf bis zu 100.000 Teilnehmer anschwoll.
Die Demonstranten waren dem Aufruf eines Bündnisses von etwa 50 Organisationen und Einzelpersonen unter dem Motto „All Eyes On Gaza“ gefolgt. Die massenhafte Mobilisierung zeigt die enorme Opposition gegen Israels Kriegsverbrechen und Deutschlands Beteiligung daran in der Bevölkerung.
Viele Teilnehmer hielten Plakate wie „Nie wieder ist jetzt“, „Free Gaza“, „Stoppt den Genozid jetzt“ oder „Bombing children is not self-defense“ und trugen Palästinser-Fahnen und Kufiyas, um ihrem Entsetzen über den anhaltenden Genozid und ihrer Solidarität mit den Palästinensern Ausdruck zu verleihen.
Andere verurteilten mit ihren selbstgebastelten Plakaten wie „Kein Krieg in meinem Namen“ oder „Scholz + Merz nach Den Haag“ die deutsche Bundesregierung für ihre Unterstützung des Genozids oder stellten einen direkten Zusammenhang zwischen den Verbrechen des Holocaust und dem Genozid an den Palästinensern her.
Kilian, ein Schüler, der zum Neptunbrunnen gekommen ist, erklärte, dass es „mittlerweile nicht mehr hinnehmbar ist, dass alles immer noch als Selbstverteidigung Israels hingestellt“ werde. Zwar habe die Bundesregierung aufgrund der Geschichte Deutschlands „eine besondere Verantwortung“ gegenüber jüdischen Menschen, aber man müsse „unterscheiden zwischen der israelischen Bevölkerung und der Regierung“.
Eine andere Kundgebungsteilnehmerin verdeutlichte ihre Meinung über die Unterstützung Deutschlands für Israel mit besonders drastischen Worten: „Ich könnte im Strahl kotzen, das denke ich!“ Für sie ist völlig klar: „Es geht am Ende ja nur ums Geld. Damit sie den Gaza-Streifen einnehmen können und das ja nicht erst seit Oktober 2023, sondern sie haben ja schon viel länger den Plan der Einnahme.“
Zu den wichtigsten Organisatoren und Initiatoren der Demonstration gehörten die Palästinensische Gemeinde Deutschland, eye4palestine, Amnesty International Deutschland und medico international. Die Zubringerdemo vom Roten Rathaus wurde federführend von der Linkspartei organisiert.
Auf der Tribüne am Großen Stern standen Redebeiträge palästinensischer Betroffener und Aktivisten im Zentrum, die die Stimmen der Opfer des Genozids hörbar machten und die unmenschlichen Zustände in Gaza anprangerten.
So beschrieb die im Berliner Exil geborene Iman Abu El Qomsan in ergreifenden Worten, was ihre Familie seit 1948 an Grausamkeiten erleben musste und erklärte: „Meine Geschichte beginnt nicht bei mir, sie beginnt lange vor meiner Geburt“, nämlich bei ihren Großeltern, die 1948 aus ihrer Heimat „von israelischen Milizen vertrieben“ wurden. „Ihre Heimat wurde [aus-]gelöscht und mit ihr das Leben, das sie kannten.“ Heute wiederhole sich, was ihre Großeltern erlebten.
Auch der bekannte Musiker Michael Barenboim ergriff das Wort und klagte an: „In grausamer Weise wird Hunger als Kriegswaffe eingesetzt, in dem man Menschen in militärische Lager lockt, um dann auf sie zu schießen sowie deren Vertreibung in das südliche Gaza zu erzwingen.“ Er betonte, dass „die Nakba, die Massentötung und Massenvertreibung der PalästinenserInnen von 1947 bis 1949 sowie die Zerstörung unzähliger Städte und Dörfer … nicht nur ein historisches Ereignis, sondern ein fortlaufender Prozess von Vertreibung, Tötung, Annektierung und Fragmentierung“ sei.
„Der Völkermord in Gaza“ sei der „vorläufige Gipfel dieser andauernden Nakba“ und während 2023 der damalige Verteidigungsminister Galant von „PalästinenserInnen als menschliche Tiere gesprochen hat, wurde das Brandenburger Tor in den Farben der israelischen Nationalfarbe beleuchtet“, geißelte er die damalige Scholz-Regierung.
Bands, Musiker und Musikerinnen wie K.I.Z., Pashanim und Ebow setzten ein künstlerisches Zeichen.
Aber die geopolitischen Hintergründe für den Völkermord, die Gründe für die uneingeschränkte Unterstützung vor allem der Merz- und der Trump-Regierung für Netanjahu, die Beteiligung der Linkspartei an der Durchsetzung der „deutschen Staatsräson“ und die Mittäterschaft der deutschen Medien blieben auf der Tribüne ungenannt.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Bei der Auftaktkundgebung vor dem Roten Rathaus hatte die Linkspartei-Vorsitzende Ines Schwerdtner sogar ganz offen erklärt, dass ihre Partei „an der Seite aller Menschen, die leiden“ stehe und zwar „in Gaza und Israel“. Als ob der Ausbruch aus dem Gaza-Gefängnis am 7. Oktober 2023 mit dem zwei Jahre andauernden und staatlich organisierten Völkermord an den Palästinensern vergleichbar wäre!
Als sie mit Buh-Rufen konfrontiert wurde, verteidigte sich Schwerdtner: „Ich verstehe euren Schmerz, denn das, was in Palästina passiert, ist ein Völkermord.“ In der Pose der Selbstkritik erklärte sie weiter: „Ich habe zu lange geschwiegen, es ist ein Genozid“, woraufhin eine Demonstrantin lautstark forderte: „Das wissen wir alles, sag uns, warum du so lange nichts gesagt hast!“
Tatsächlich hatte die Linksfraktion im Bundestag die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson erklärt, Waffenlieferungen an Israel gefordert und sich bis vor kurzem geweigert, den Völkermord auch nur beim Namen zu nennen. Erst als auch Vertreter der Bundesregierung einen etwas kritischeren Ton anschlugen, änderte sie ihre Haltung.
Der Parteiführung geht es dabei in erster Linie darum, die wachsende Opposition gegen diesen grausamen Völkermord unter Kontrolle zu bringen und in harmlose Kanäle zu lenken. Sie kann diese Rolle nur spielen, weil alle übrigen Organisatoren, auch wenn sie von ehrlicher Empörung angetrieben werden, die zentralen politischen Fragen ausklammern und sich weigern, die Hintergründe des Genozids auch nur zu diskutieren. Der Aufruf zur Demonstration bestand im Wesentlichen aus freundlichen Appellen an die Bundesregierung, die selbst eine treibende Kraft hinter dem Völkermord ist.
Vertreter der Sozialistischen Gleichheitspartei griffen diese Position an und verteilten massenhaft das Flugblatt „Eine sozialistische Perspektive im Kampf gegen Völkermord und Weltkrieg“. Darin erklärte die SGP, dass es an der Zeit sei „nach zwei Jahren andauernder Massenproteste auf der ganzen Welt“ gegen den schrecklichen Völkermord in Gaza „politisch Bilanz zu ziehen: Was sind die politischen, historischen und wirtschaftlichen Hintergründe des Völkermords – und mit welcher Strategie und Perspektive kann er gestoppt werden?“
Die Bundesregierung habe nicht einfach auf der falschen Seite Stellung bezogen, sondern sei eine treibende Kraft hinter dem Völkermord. „Die imperialistischen Mächte sehen im jetzt stattfindenden Völkermord und der Unterdrückung jeglichen Widerstands der Palästinenser die Grundvoraussetzung für die Neuordnung des ganzen Nahen Ostens, der mit seinen Rohstoffen und seiner strategisch zentralen Lage größte Bedeutung hat.“ Der Völkermord in Gaza sei eine Front im globalen Kampf um die Neuaufteilung der Welt und könne daher nicht von der Aufrüstung und dem Krieg gegen Russland getrennt werden.
Die Linkspartei versuche, die Bewegung mit ihren freundlichen Appellen an die Regierung abzuwürgen, weil sie im Wesentlichen selbst hinter der Regierungspolitik stehe und den Kapitalismus verteidige. „Aber der Völkermord in Gaza zeigt gerade, dass der Kapitalismus mit den Bedürfnissen der Menschen unvereinbar ist“, heißt es in dem Flugblatt. „Eine ernsthafte Antikriegsbewegung muss den Kampf gegen den Völkermord mit dem Kampf gegen die Aufrüstung und die Eskalation des Kriegs gegen Russland verbinden und sich gegen die Wurzel dieser Barbarei richten: den Kapitalismus.“
Viele Demonstranten blieben am Bücherstand der SGP stehen, um über den weiteren Weg im Kampf gegen Völkermord und Krieg zu diskutieren. Sie waren von der Analyse und dem Programm der SGP angezogen und kauften auch ausliegende Literatur. Besonderes Interesse fand das Buch „Die Logik des Zionismus“ von David North. Es formuliert in außerordentlich präziser Klarheit und historisch fundiert ein vernichtendes Urteil über die Perspektive des Zionismus und die Wurzel des Genozids in Gaza und entwickelt auf dieser Grundlage eine internationale sozialistische Perspektive für den Kampf dagegen.